In der Politik geht es keineswegs nur um das nüchterne Kalkül von Interessen, vielmehr auch um Gefühle, Identifikation, Sinn oder den Wunsch nach Größe. Antworten auf solche Impulse sind symbolisches Handeln, massenmediale Inszenierungen, nationale Rituale, politische Mythen. Erschreckende Bilder von der Macht scheinbar toter Mythen lieferte an der Wende zum 21. Jahrhundert das Wiederaufflammen des Nationalismus auf dem Balkan oder des Rassismus in den westeuropäischen Zivilgesellschaften.
In den letzten ein, zwei Jahrzehnten haben die meisten Gesellschaften zugleich das langwierige Verblassen und den überraschenden Riss blendender Träume erlebt - vom unaufhaltsamen technisch-zivilisatorischen Fortschritt bis zum gesetzmäßigen Triumph des real existierenden Sozialismus, von der unveränderlichen Bestimmung der Geschlechter bis zur optimalen Allokation der Ressourcen in der Marktwirtschaft. Was ist mit der überwältigenden Bedrohung der Standorte des Nordens durch die Globalisierung? Offensichtlich waren auch etliche Erwartungen, die an Informationsgesellschaft und New Economy geknüpft wurden, illusionär.
Mit dem Thema "politischer Mythos" setzen sich zwei neuere sozialwissenschaftliche Untersuchungen auseinander. Rudolf Speths Buch Nation und Revolution handelt von folgenreichen Utopien der Deutschen im 19. Jahrhundert. Mythen in der Politik der DDR von Raina Zimmering betrachtet den "real existierenden Sozialismus" als "diesseitige" Religion.
Der Traum von der Nation
Untrennbar, so scheint es, waren und sind gerade Nationalgefühl und politische Mythen verknüpft. Die nationalistischen Phantome des 19. Jahrhunderts - vom "Vermächtnis der germanischen Helden" über die "deutsch-französische Erbfeindschaft" bis zur "weltgeschichtlichen Sendung des Deutschen Reiches" - beherrschten, erweitert vor allem um rassistische Inhalte, auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Mobilisierung für den Krieg der Nationalismen 1914-18 und die Machtübernahme des Faschismus - und damit den Zweiten Weltkrieg - war ohne diese Fiktionen undenkbar.
Die Entstehung der Nationen - zumindest in Europa - mag in frostiger Vergangenheit verschwimmen, die nationalen Gefühle jedoch begannen erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu glühen. Vorher überwogen konfessionelle, ständische oder lokale, allenfalls regionale Identitäten. Die Loyalität der Eliten galt Dynastien. Noch im 17. Jahrhundert existierte kein nationales Bewusstsein.
In der Ära der Amerikanischen und der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts verlieh der Nationalstolz - "Das Volk sind wir!" - dem Bürgertum in der Auseinandersetzung mit den Dynastien historische Legitimität. Formal wurde das nationale Engagement des französischen "Dritten Standes" zum Vorbild sogar konkurrierender Nationen.
In Deutschland loderte das Nationalgefühl zwischen 1800 und 1820 auf, in der Ära der Napoleonischen Kriege. Die schwedische Invasion 150 Jahre zuvor, im Dreißigjährigen Krieg, hatte keine vergleichbaren Leidenschaften ausgelöst. Zuerst erfasste die neue Idee Philosophen und Dichter wie Johann Gottlieb Fichte oder Ernst Moritz Arndt und intellektuelle Militärs wie Neidhart von Gneisenau oder Carl von Clausewitz - dann mehr und mehr auch die städtischen Oberschichten.
Der Kampf gegen den äußeren Feind "von jenseits des Rheins" wirkte - wie Rudolf Speths Buch zeigt - als Katalysator der zögernden Konstituierung des deutschen Bürgertums zur Nation. Im Innern richtete sich dessen Selbstverständigung gegen den - oft kosmopolitisch eingestellten - Adel. Gleichzeitig zerfiel die Autorität der christlichen Kirchen in der beginnenden industriellen Ära. Der Nationalismus mit seinen fundamentalen mythischen Erzählungen trat als eine Art politische Religion an die Stelle traditioneller Loyalitäten.
Speth hebt hervor, dass bis etwa 1860/70 die nationale Bewegung zwischen Breisgau und Masuren weithin liberal-demokratischen Charakter hatte. Nach der Gründung des Zweiten Reiches 1871 - mit dem Pakt zwischen Adel und aufstrebendem Bürgertum - nahm das nationale Denken in Deutschland zunehmend reaktionäre, offensiv gegen andere Nationen gerichtete Züge an.
Der Triumph des Nationalgefühls
Ein die Massen beherrschendes nationales Bewusstsein hatte sich allerdings erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts formiert. Wie breitete es sich aus ? Wenn, wie suggeriert wurde, nationale Identität etwas Naturgegebenes, Unausweichliches war: war dann eine auf politische Mythen angewiesene "Schule der Nation" nötig?
Bemerkenswerterweise setzte sich in den unteren Rängen der Gesellschaft, unter dem verklärten "gesunden einfachen Volk" das Nationalgefühl keineswegs spontan durch, sondern musste viele Jahrzehnte lang mühsam propagiert werden. Dieses "Erwachen" war nicht denkbar ohne die gerade damals eingeführte Schul- und allgemeine Wehrpflicht. Speth zeichnet ausführlich die Bedeutung der Schule im Deutschland des 19. Jahrhunderts für die Verbreitung national-historischer Mythen nach.
In den ersten Kriegen der "Epoche des Nationalismus" erwiesen die Armeen von Wehrpflichtigen - wie sie in Frankreich nach 1789 "erfunden" worden waren - sich den oft multinationalen Heeren von Söldnern als deutlich überlegen. Streitkräfte, die nicht eine entschlossene Minderheit von Freiwilligen, sondern alle jüngeren Männer mobilisierten, brauchten eine motivierende Ideologie.
Die Erfahrung des Krieges wieder - im Rückblick auf den Sinn des eigenen Handelns, des eigenen Risikos - förderte bei den aktiven oder entlassenen Soldaten die Bereitschaft zum mythischen Denken. Außer Schule, "staatstragender" Presse und so weiter engagierten sich im Deutschen Reich "Kriegervereine" mit schließlich mehreren Millionen Mitgliedern bei der Popularisierung nationaler Visionen.
Nur kurz geht Speth auf die ebenfalls im 19. Jahrhundert entstehende, am Anfang offen politisch-militärisch orientierte Sportbewegung ein. Die deutschen "Turnerschaften" spielten eine entscheidende Rolle bei der Formierung des nationalen Willens. Auch wenn Sport heute in erster Linie Entertainment ist, so ist doch bei Olympiaden oder Europameisterschaften noch immer die millionenfache nationale Identifikation unübersehbar.
Anderere wichtige Faktoren waren historische Feste, Plakate, Gemäldereproduktionen und Denkmäler, die manchmal gigantische Ausmaße erhielten - wie die deutschen "Nationaldenkmäler" im Teutoburger Wald, am Rhein oder auf dem Kyffhäuser.
Nationalistische Glücksgefühle
Was machte die Wucht der nationalen Gefühle aus ? Gründungs- und Ursprungsmythen ließen ein Bewusstsein verwandtschaftlicher und/oder schicksalhafter Zusammengehörigkeit reifen. Außer der "Blutsgemeinschaft" wurde überall ein einheitlicher "Volkscharakter" konstatiert. Und unvermeidlich erwies sich - auf Grund von Kultur, Produktivität, Moral usw. - immer die eigene Nation als die beste, integerste, die zur Herrschaft berufene: auf fatale Weise, wie sich rasch herausstellte, motivierende Zuschreibungen.
Speth verweist auf die bekannten deutschen "Ursprungsmythen" von den Nibelungen, Hermann dem Cherusker oder Kaiser Barbarossa. Besonders der Sieg des Germanenfürsten Hermann über das Heer der Weltmacht Rom diente zur Begründung zeitloser militärischer Überlegenheit. So wie Hermann zur mythischen Ursprungsfigur der Deutschen aufstieg und Friedrich "der Große" zum Heros einer mehr nationalen als dynastischen Herrschaft, so erschien Bismarck als Personalisierung der "Wiedergeburt des Reiches" im späten 19. Jahrhundert. Überall entstanden Bismarcktürme. Der "Eiserne Kanzler" eignete sich besser als Kaiser Wilhelm I. zur politischen Symbolfigur, weil er für den historischen Kompromiss zwischen Dynastie und Bürgertum stand. Die alten nationalistischen Mythen handelten nicht allein von Führern. Zentralen Stellenwert erhielt die Kategorie des - vor allem kollektiven - Opfers. Die Wehrpflicht aller Bürger erforderte eine erhöhte Todesbereitschaft. Es entstand ein regelrechter Kult um die Kriegstoten. Er enthielt einen unausgesprochenen Schuldvorwurf an die Lebenden. Er förderte das Denken in historischen Kontinuitäten, Stichwort "Erbfeindschaft" - und oft genug die Mobilisierung mit dem Ziel der Rache.
Nationale Mythen integrieren nicht nur, sie schließen zugleich aus: in erster Linie die Angehörigen anderer Nationen, aber auch ethnische, religiöse oder politisch unzuverlässige Minderheiten im eigenen Land. Im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts galt das für Sozialdemokraten, die Elsässer, die Polen in Westpreußen, die Dänen in Schleswig-Holstein - und in den Jahren des "Kulturkampfs" um 1880 sogar für die Katholiken.
Nation und Revolution von Rudolf Speth liefert fundamentales Wissen über den politischen Mythos des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein faszinierendes Buch: Berührungen mit dem Dunklen vor und hinter aller Politik.
Von den verzerrten Geschichtsentwürfen des "real existierenden" Sozialismus handelt Mythen in der Politik der DDR von Raina Zimmering. Besonders eindrucksvoll ist ihre Auseinandersetzung mit dem Antifaschismus als Gründungsmythos und mit der anfänglichen Dämonisierung und schließlichen Verklärung Preußens.
Der Antifaschismus sollte Zimmering zufolge die Gründung des "Ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates" historisch und moralisch legitimieren. Tatsächlich waren im Widerstand gegen das NS-Regime Kommunisten und Kommunistinnen die größte und engagierteste Gruppe. Viele Angehörige der neuen DDR-Führungsschicht hatten in Untergrundgruppen gearbeitet, in der sowjetischen Armee gekämpft oder das Dritte Reich im KZ überlebt.
Die argumentative Falle: wer in der Vergangenheit auf der richtigen Seite gestanden hatte, vielleicht sogar ein Held gewesen war, der musste in der Gegenwart unangreifbar sein. Zur Mythisierung des Antifaschismus gehörte, dass einerseits die Bedeutung der liberal-konservativen Opposition gegen den Nationalsozialismus, andererseits aber die Widersprüche und Schwächen des kommunistischen Widerstands bagatellisiert oder verschwiegen wurden.
Ein weiteres Moment: die DDR schob die Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus fast allein den politischen und wirtschaftlichen Eliten zu, von der Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung war nur beiläufig die Rede. Die Massen erschienen - ähnlich wie in der BRD - als Verführte, fast schon als Opfer des Faschismus.
Am Anfang gab es - über die KPD hinaus - eine breite Zustimmung zu einem antifaschistischen Neubeginn in der DDR. Die demokratischen Werte des Antifaschismus gerieten aber rasch in Widerspruch zur Errichtung einer bürokratischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild. Endgültig fiel das Phantom in den siebziger Jahren in sich zusammen - die jüngere Generation erlebte die starren Rituale zunehmend als unglaubwürdig.
Je flexibler ein Mythos ist, desto "zukunftsfähiger" ist er. Als Beispiel radikaler - allerdings erfolgloser - Veränderung analysiert Zimmering den Preußen-Mythos der DDR.
Ursprünglich galt Preußen als Gegenbild des "sozialistischen Staats auf deutschem Boden". Die Großmachtpolitik, der Militarismus und die autoritäre Gesellschaftsverfassung wurden oft ins Dämonische überhöht. Positive Bezugspunkte - wie die "Befreiungskriege" gegen das napoleonische Frankreich oder die bürgerliche Revolution von 1848 - erschienen als "dialektische" Ausnahmen. Den Hintergrund der Suche nach einem "hellen" Preußen-Mythos, der wieder Identifikation ermöglichen sollte, seit Ende der siebziger Jahre sieht die Autorin im langsamen, aber unaufhaltsamen Ruin des DDR-Sozialismus.
Akteure der überraschenden Neubewertung Preußens waren einerseits "führende Persönlichkeiten" der SED wie Kurt Hager, andererseits - durchaus mit einer gewissen Autonomie - Historiker und Historikerinnen wie Ingrid Mittenzwei und Horst Bartel. Zimmering rechnet die Geschichtsrevision manchmal zu undifferenziert der Kategorie Mythisierung zu. Positiv hob man nun etwa die innen- und justizpolitischen Reformen Friedrichs II. oder Bismarcks Außenpolitik eines "Gleichgewichts der Mächte" hervor. Auch wenn das neue Geschichtsbild Negatives nicht ausblendete, wurden in der breiten Bevölkerung solche Relativierungen überhört.
Die geschichtspolitische Wende bedeutete nicht nur eine Entwertung des Antifaschismus, sondern auch eine beschleunigte Erosion der SED-Diktatur - die "Erneuerung" wurde weithin als Selbstaufgabe verstanden. Heute, mehr als zehn Jahre nach dem Untergang der DDR, erscheinen ihre Fiktionen als hilflose Versuche im Vergleich zu den - im Bewusstsein der "werktätigen Massen" real existierenden - Mythen aus dem BRD-Fernsehen. Gegen Dallas und Denver, die Welten der Reklame und einer sich überbietenden Unterhaltung wirkte ein restauriertes Preußen-Bild eher lächerlich.
Dagegen scheint bei einem Teil auch der jüngeren Bevölkerung der Neuen Bundesländer die untergegangene DDR inzwischen zu einem - allerdings ironisch gebrochenen - Mythos zu werden. Wer die Mechanismen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit verstehen will, der sollte zu den Büchern von Zimmering und Speth greifen. Sie geben faszinierende Einblicke in dieses Phänomen.
Rudolf Speth: Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert. Verlag Leske + Budrich, Opladen 2000, 51 EUR
Raina Zimmering: Mythen in der Politik der DDR. Verlag Leske + Budrich, Opladen 2000, 32,90 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.