Der Mitläufer und die schweigende Mehrheit

Selbstheilungskräfte? Fehlanzeige! Zivilcourage ist auch heute noch ein seltenes Gut. Konformistisch synchronisiertes Blöken oder beherztes Schweigen erscheinen immer noch für viele angesagt.

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Es ist keine Kunst, stets das Gegenteil zu behaupten, aber es ist ein unschätzbares Vermögen, Aussagen so zu verstehen, wie sie gemeint sind.

Brandstifter werden durch Mitläufer in Schutz genommen. Gestärkt durch das Schweigen der Mehrheit wähnen diese ihr Fähnchen in den richtigen Wind gehängt zu haben und so das Ansehen Ihrer eigenen Person durch ihr inhaltsloses Synchron-Blöken entscheidend aufwerten zu können. Erkennen Sie, dass der Wind sich dreht, hängen sie, schlau wie sie als konformistischer Büttel nun einmal sind, schnell ihr Fähnchen auf die andere Seite. Hauptsache sie werden von möglichst vielen gesehen. So ist ihr Tag ein schöner Tag, kein Montag, sondern ein Freitag, bella mia, gemeinsam bereit, den Wonne-Gipfel des Diskreditierens und Diskriminierens, des Bashings und Mobbings, geifernd zu genießen. Dumm nur, dass die Mehrheit zwar verhängnisvollerweise schweigt, da sich offensichtlich jeder Einzelne fürchtet, sich in der Öffentlichkeit für jeden nachvollziehbar zu positionieren, dumm aber nur, dass die Denkenden unter dieser Mehrheit das erbärmliche Tun der Mitläufer sehr wohl erkennen, diese aber nicht selten als nützliche „Stimmungs-Test-Idioten“ unwidersprochen gewähren lassen.

Sollte man die Mitläufer zu deren eigenen Schutz nicht durch entsprechend klaren Hinweis vor ihrem eigenen unsäglichen Tun bewahren?

Wäre es nicht das Mindeste, sich zumindest den Tätern in den Weg zu stellen, damit sich der Wind drehen kann?

Nach den Erfahrungen des verheerenden rechten Herrschaftssystems und der entmündigenden linken Parteien-Diktatur, nach der Huldigung von Kapitalismus und Sozialismus auf den verschiedenen Seiten der Mauer, nach Duckmäusertum gegenüber der Militärmacht USA und dem Sowjetsystem, also nach den umfangreichen Erfahrungen mit einseitiger Besessenheit, sollte man im vereinten Deutschland 2019 davon ausgehen dürfen, dass es genügend wache Bürger gibt, die sich mit Klarheit und mit Entschlossenheit im Sinne der Menschenrechte und des Anstands aktiv dafür einsetzen, dass nicht schon wieder derartiges Tun bzw. einsichtige Weltsichten überhand nehmen und Fremde ausgegrenzt und Andersdenkende gemobbt werden. Durch epische Kriege und Katastrophen allein scheint der Mensch am Ende dann offensichtlich doch nicht lernen zu können, wenn er sich der Notwendigkeit zu eigener Einsicht konsequent verweigert. Alles Besserwissern und Totschwätzen endet im „Nirwana“, wenn der Mensch nicht eine seiner größten Errungenschaften bemüht: vernünftig zu analysieren, besonnen zu bedenken, angemessen zu kritisieren, verständnisvoll zu kommunizieren und dann entsprechend klug zu handeln.

Wie aber kommt man dorthin?

Laut Sokrates gibt Selbsterkenntnis dem Menschen das meiste Gute, die Selbsttäuschung das meiste Übel. Wer die Welt bewegen wolle, der solle sich erst selbst bewegen.

Ja, natürlich ist die Selbsterkenntnis unverzichtbar. Aber bezüglich des eigenen falschen Handelns fällt sie häufig äußerst schwer. Der Dunning-Kruger-Effekt - wonach mit dem Grad der eigenen Inkompetenz auch der Grad der eigenen Überschätzung und damit einhergehend auch der Grad der eigenen Unfähigkeit wächst, das Ausmaß der eigenen Inkompetenz zu erkennen – kann nicht von der Hand gewiesen werden. Nach dem deutschen Mediziner Dr. med. Eberhard Rau (1945) muss man klug sein, um seine eigene Dummheit zu entdecken. Darum auch entdecke man sie so selten bei sich selbst. Nach Stephen Hawking ist der größte Feind des Wissens nicht die Unwissenheit, sondern die Illusion wissend zu sein.

Was also kann man tun, um die Fähigkeit zur eigenen Selbsterkenntnis zu vergrößern?

Zunächst sollte man dabei sich stets vor Augen führen, dass die „Fratze“, die man möglicherweise im Spiegel sieht, nicht „das Gesicht des Nachbarn“ ist (frei nach Walter Ludin, Schweitzer Autor) und „nur ein Tor“ den Spiegel zertrümmert, „wenn ihm das Spiegelbild missfällt“ (schwedische Weisheit). Eine deutsche Weisheit besagt, dass „die Selbsterkenntnis genau an dem Punkt beginnt, an dem wir für einen Misserfolg nicht andere, sondern uns selbst verantwortlich machen“.

Es gehört zur hohen Kunst der Kritikfähigkeit, konstruktive Kritik, so hart sie manchmal auch erscheinen mag, als Bereicherung und als Anstoß zur Veränderung zu begrüßen und nicht als Angriff auf seine Person zu erfahren, gegen den man sich entschieden zur Wehr setzen muss. Das aber steht in keinerlei Widerspruch dazu, dass man unberechtigte Kritik mit Entschiedenheit zurückweisen kann.

Die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Außensicht (vertrauter) Dritter und deren konstruktive Kritik mit in die eigene Hinterfragung seines Selbst einzubeziehen, kann ein wichtiger Aspekt mit Katasylator-Funktion sein. Vermutlich aber nur dann, wenn man zeitweilig eine Außenperspektive einnimmt und sich aus dieser Sicht selber tabulos hinterfragt, besteht die Chance, dass Selbsterkenntnis tatsächlich der erste Schritt zur Besserung ist. Das gilt für jeden Menschen: für Täter, für Mitläufer, für die schweigende Mehrheit und natürlich auch für jeden Zivilcouragierten!

Es ist offensichtlich, dass einem dabei auch ein Selbstbild weiterhilft, dass nicht allzu sehr auf dem eigenen Ego und dessen unbedingter Präsentation beruht, sondern vielmehr auf der eigenen Lernbereitschaft und der eigenen Lernkompetenz als Möglichkeit seinen Horizont stets erweitern zu können.

Negative Beispiele? Ja, Beispiele finden sich genug. Allein dieses Forum ist bedauerlicherweise voll davon, obwohl es doch eigentlich in erster Linie um Erkenntnisgewinn gehen sollte.

Positive Beispiele? Ja, niemand hält uns davon ab, selber dafür zu sorgen.

Es ist an der Zeit, dass die Selbstheilungskräfte innerhalb einer Gesellschaft bzw. innerhalb einer Community ein für alle Male stärker werden.

Es ist an der Zeit, dass man nicht nur einseitig auf seinen Menschenrechten beharrt, sondern dass man auch seine Menschenpflicht erkennt, für diese aktiv einzutreten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Insel-Banker

Es ist keine Kunst, Sand im Getriebe zu sein, aber es ist ein unschätzbares Vermögen, wichtige Entwicklungen mit anzutreiben.

Insel-Banker

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