Schon 1975 hielt der berühmteste Vertreter der Pop Art in seinem Buch Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und wieder zurück fest: „Wenn ‚die Kunst‘ da ist, kommt als nächster Schritt die Businesskunst.“ Was aber kommt nach der Businesskunst? Nur noch reines Business?
Um diese Fragen kreist das Werk Haut Nr. 5 der Künstlerin Irina Nakhova. Es besteht aus zwei Teilen, Bild und Text, beide zusammen ergeben eine Geschichte. Der Text erzählt Folgendes: Ein wohlhabender Galerist soll sich entschlossen haben, zu einem angesagten Künstler zu werden, und sucht nun Menschen, die für 1.000 Dollar bereit sind, sich tätowieren und fotografieren zu lassen. Nadezda, die in Moskau nach ihrem Glück sucht, lässt sich auf das Kunstprojekt ein, wird aber noch an ihrem ersten Abend in der Stadt erstochen. Ihre obdachlosen Freundinnen schinden sie und verkaufen ihre Haut für 500 Dollar an besagten Galeristen-Künstler, der die tätowierte Haut Nadezdas ausstellt.
Der Rubel fällt
Die Arbeiten von Irina Nakhova sind in Russland en vogue. 2013 wurde sie mit dem höchstdotierten russischen Kunstpreis, dem Kandinsky-Preis für Gegenwartskunst, ausgezeichnet. Anfang 2014 ist entschieden worden, dass sie 2015 den russischen Pavillon in Venedig bespielen darf – als erste Frau in der Geschichte dieses Pavillons überhaupt. Kurz danach erfolgte die Krim-Annexion, und vor der Konzeptkünstlerin, die angesichts der Unvorhersehbarkeit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Russlands seit 2001 hauptsächlich in New Jersey lebt, tun sich seitdem Hindernisse auf. Das Projekt bleibt ein Wagnis, nicht nur aufgrund der kritischen Ansichten Nakhovas gegenüber ihrem Land, sondern auch, weil sich der Rubel, unter anderem durch die Sanktionen, im freien Fall bewegt und die vor einem halben Jahr bewilligte Kalkulation keinen Sinn mehr ergibt.
Haut Nr. 5 ist eines von elf Objekten, die Nakhova 2010 als Serie angefertigt hat: Fotografien von tätowierten nackten Körperteilen auf Silikonoberflächen, begleitet von kurzen fiktiven Texten. Jede Nummer erzählt eine andere Geschichte, deren Wirkungskraft sich vor allem im Zusammenspiel der Bilder mit den jeweils verschiedenen Sprachmustern der Yellow Press, religiöser Sprache und Oligarchenslang entfaltet. Sechs dieser Werke sind zurzeit in London in der Ausstellung Post Pop: East Meets West in der Saatchi Gallery zu sehen.
Die Brisanz der Schau liegt auf der Hand. Denn wenn Machtsymbole aus West und Ost heute aufeinandertreffen, kommt dabei kein Lächeln zustande. Stattdessen dominieren Auswüchse von Missverständnissen, Fremdheit und Abstoßung die mediale Berichterstattung. Von einem Dialog kann schon lange nicht mehr gesprochen werden, es geht allenfalls um Kompromisse. Post Pop: East Meets West will dieser Entzweiung etwas entgegensetzen. Die Kuratoren Marco Livingstone, Chang Tsong-Zung und Andrej Erofeev, auf US-amerikanische, ostasiatische und west- und osteuropäische zeitgenössische Kunst spezialisiert, haben versucht, die Werke, die zum größten Teil aus der Sammlung des Milliardärs Igor Tsukanovs stammen, in ein Spannungsverhältnis zu bringen.
Zum Aushängeschild dieses Unterfangens haben sie Two Profiles von Leonid Sokow aus dem Jahr 1989 gemacht. Stalins aus Bronze geschlagenes Konterfei steht im Vordergrund dieses Werks; dahinter nicht etwa Lenin, Marx oder Engels, sondern ein Schwarz-Weiß-Porträt des archetypischen westlichen Sexsymbols Marilyn Monroe. Das bekannte Lachen und der verführerische Blick der Filmikone treffen auf die versteinerten Gesichtszüge des Diktators, so entsteht eine folkloristische Komik. Es ist offensichtlich und im Katalog auch vermerkt, dass die Kuratoren Synergien dieser Art angestrebt haben, indem sie drei Kunstrichtungen in Beziehung zueinander setzen: die mit dem ekstatischen Konsum und der Warenästhetik spielende Pop Art aus dem Westen, die daran anschließende und den Sozialistischen Realismus ironisierend parodierende Soz Art aus dem Osten (vor allem aus Russland) sowie die ebenfalls Ideologie karikierende Political Art aus dem Fernen Osten (besonders aus China).
Die Politik gebraucht längst ähnliche Mechanismen. Der zeitgenössische Karneval schaltet so alte Formen des politischen Protests aus, man denke nur an Putin-Produkte wie Schokolade, T-Shirts, Smartphon-Schutzhüllen und vieles mehr, die jedoch frei von jedem ironischen oder dämonisierenden Charakter sind. So scheint es durchaus an der Zeit, eine Kunstrichtung des Post Pop zu entwerfen.
Auf den drei Etagen der riesigen Galerie an der Londoner King’s Road sind zahlreiche berühmt gewordene Werke der zeitgenössischen Kunst zu betrachten: der Spaghetti Man von Paul McCarthy mit seinem meterlangen Glied, die Monsterfotografien von Cindy Sherman, die Kunst am Zerfallen zeigende Post-Art-Serie von (Vitaly) Komar & (Alexander) Melamid, die in Russland zensierten Kaviarikonen von Alexander Kosolapov, die konservierte Tennisspielerin von Oleg Kulik, die aus Menschenhaaren hergestellte monumentale Arbeit der chinesischen Künstlerin Gu Wenda mit dem Titel United Nations: Man and Space und schließlich die Farbigen Vasen von Ai Weiwei. Für sich genommen sind viele dieser Werke sehr stark, aus der Begegnung oder dem Dialog miteinander ziehen sie aber kaum zusätzliche Kraft, sie werden dieser manchmal sogar beraubt.
Die sechs Arbeiten aus der Haut-Serie von Irina Nakhova sind in der Sektion „Sex & the Body“ gelandet und hängen dort dicht aneinander, drei oben, drei unten. Nach den dazugehörigen Texten suchte man bei der Vernissage vergebens. Auch die Künstlerin traute ihren Augen kaum, als sie vor der Hängung stand. Ohne die Texte, so viel sollte nunmehr klar sein, ist die Arbeit ihres Sinns beraubt. Im Katalog sind sie zwar vorhanden, um sie lesen zu können, bräuchte man allerdings eine Lupe. War hier Ignoranz oder Unvermögen am Werk? An der finanziellen Ausstattung kann es nicht gelegen haben. Mit Tränen in den Augen suchte Irina Nakhova am Eröffnungsabend vergebens nach den Kuratoren, bis ihr ein paar Aufseher nahelegten, am nächsten Tag wiederzukommen, um das Problem in Ruhe zu besprechen.
West meidet Ost
Ebendieses Problem verfolgt die gesamte Ausstellung. Das Fehlen von Kontexten ist systematisch für die Gesamtschau. Und wenn es mal zu einem Dialog der Kunstwerke untereinander kommt, wird bei genauem Hinsehen deutlich, dass es sich nicht um eine Begegnung zwischen East und West handelt, sondern zwischen East und East beziehungsweise West und West. Etwa wenn sich die schwarz verhüllten Gestalten, die Sergej Shutov 2001 unter dem Titel Abacus im russischen Pavillon in Venedig zeigte, unaufhörlich vor Anatoli Osmolowskis Brot-Serie verbeugen, die wie ein Altar aussieht, oder wenn gleich neben Jeff Koons’ glänzenden Basketbällen in glatten Vitrinen die zerfallenen, erodierten, dreckigen Basketbälle seines Landsmanns Daniel Arsham liegen. Ansonsten herrscht Stille.
Zwar haben sich die Texte am nächsten Tag gefunden und Nakhova durfte sie aufhängen. Allerdings nicht so, wie sie es gern hätte, gleich neben der jeweiligen Haut, sondern als Gruppe – so der Wunsch des Leiters der Galerie, Nigel Hurst, der keine Anstalten unternahm, um die Künstlerin zu treffen, sondern ihr aus dem Weg ging; so viel also auch auf dieser Ebene zu East meets West. Um die Wirkungskraft der Werke ging es den Veranstaltern offensichtlich nicht – sondern allein ums Business.
Post Pop: East meets West Saatchi Gallery London, bis 23. Februar
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