Die Kraft der Gedanken

Telepathie Im Spätherbst der Sowjetunion wollte das Staatsfernsehen seine Zuschauer mit Hilfe eines Wunderheilers auf „neue Aufgaben“ einstimmen und so die Perestroika retten

Das Jahr 1989 begann damit, dass George Bush senior das Amt des 41. Präsidenten der Vereinigten Staaten übernahm. Es sollte zu einem der turbulentesten Jahre des 20. Jahrhunderts werden und das Ende des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts einläuten. Und das definitiv. Folgt man den Fernsehjahrbüchern von ARD und ZDF, brach die Berichterstattung über die politischen Umwälzungen in den Ostblockstaaten – besonders über die Wende in der DDR – alle bis dahin gekannten Rekorde bei den Einschaltquoten. Ob es um den Abbau der Grenzanlagen Ungarns zu Österreich im Sommer 1989 ging, den Fall der Mauer oder die Auftritte von Kanzler Kohl in der DDR – immer sammelten sich Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten. In der Sowjetunion herrschte hingegen ein etwas anderes Bild.

Zwar fanden sich die genannten Geschehnisse auch in den Nachrichten des sowjetischen Staatsfernsehens TSS – die Aufmerksamkeit der Zuschauer in den seinerzeit noch vereinten 15 Republiken zog jedoch eine Sendung im Ersten Kanal auf sich, die Ende 1989 gleich nach den Abendnachrichten um 20:30 Uhr in sechs Folgen ausgestrahlt wurde.

„Entspannen Sie sich, lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf“, lautete die ersten Sätze, mit denen sich der moderierende Psychotherapeut Anatoli Michailowitsch Kaspirowski an sein Publikum – die gesamte Sowjetunion – wandte und diese durch Gedankenkraft zu heilen suchte. Eine solche Therapie via Television war keineswegs aus dem Nichts geboren. In gewisser Weise hatte ihr eine bis dahin jahrzehntelang vom Staat geförderte wissenschaftliche Gehirnforschung das Fundament gegossen.

Bereits 1968 stellte sich der sowjetische Gedankenforscher Pawel Guljajew eine „Poliklinik der nahen Zukunft“ vor, in der auf Basis von immateriellen Methoden Krankheiten diagnostiziert werden könnten: „In den Behandlungsraum kommt ein Patient. Die Apparate registrieren das Elektro-Auragramm seines Gehirns, seines Herzens, der Nerven, Muskeln und inneren Organe und senden die ermittelten Informationen an eine elektronische Diagnose-Maschine, die – nachdem sie die Erkrankung erkannt hat – eine adäquate Therapie bestimmt. Das alles passiert in Sekunden, der Patient muss sich nicht einmal ausziehen.“ Die Einheit mit der das Elektro-Auragramm des Patienten gemessen wurde, bezeichnete Guljajew als Psichon. Als Leiter eines Laboratoriums für physiologische Kybernetik erforschte er die unmittelbare Wirkung von Gedanken und stellte per Grafiken die Grundlagen der Telepathie dar. Es ging vereinfacht gesagt um einen Transfer von Wissen durch Gedanken – einen Vorgang, wie ihn materielle Übertragungstechniken ermöglichten und der beim Rezipienten eine unmittelbare Wirkung hinterließ – also Wirklichkeit wurde. Der medizinische Aspekt des Mediums Psichon, der für Guljajews Visionen entscheidend war, erreichte seinen Höhepunkt, als die UdSSR am Tiefpunkt war und das am System zweifelnde Volk mit „aufladenden Kräften“ geheilt werden sollte.

Bevor Anatoli Kaspirowski 1989 mit seinem Versuch der medialen Fernheilung am Bildschirm begann, hatte der Mediziner bereits 25 Jahre lang in einer psychiatrischen Klinik praktiziert und war Psychotherapeut der sowjetischen Gewichtheber-Nationalmannschaft. Nach den Olympischen Spielen von Seoul 1988, bei denen die Sowjetunion mit sechs Goldmedaillen unter anderem das Gewichtheben dominierte, reichten Popularität und Ruhm Kaspirowskis weit über die Sportgemeinde hinaus.

Nun sollte und wollte er mit seiner ärztlichen Kunst das von Veränderungen aufgewühlte Land beruhigen, heilen und auf neue Ziele einschwören. Es war Ende 1989 mehr als offensichtlich, dass die bis dahin verfolgte Reformpolitik und der Wandel des Systems unter dem Slogan Glasnost und Perestrojka keine überzeugenden Wirkungen zeitigten. Die Bevölkerung schien wie aus einer Trance zu erwachen und zu bemerken, was in den – wie sich herausstellen sollte – letzten Jahren des Sowjetstaates alles passiert, wie groß der Abstand zum westlichen Lebensstandard und der Wirtschaft zur Weltspitze geworden war. Jetzt sollte eine neue, keine eindeutig politische, sondern „heilende“ Kraft diesen Zustand der Trance aufnehmen und den Einzelnen damit aus seiner resignativen Passivität reißen.

Die erste von Kaspirowskis Sendungen fand am 9. Oktober 1989 statt. Während in Leipzig 70.000 Menschen demonstrierten, „Wir sind das Volk“ riefen und die Führung der DDR bis ins Mark erschütterten, saßen im Land der Perestroika zur Prime Time Millionen vor dem Fernsehgerät und ließen sich von einem Wunderheiler auf bevorstehende jähe Veränderungen einstellen: „Sie können Ihre Augen eine Weile geöffnet lassen. Schauen Sie auf die Umgebung, in der Sie sich aufhalten. In Ihrer Nähe sollten keine spitzen Gegenstände sein. Es sollte auch kein Feuer brennen. Sie sollten sich in einer stabilen Körperhaltung befinden. Sollten Sie ernsthaft krank sein, zum Beispiel an Epilepsie leidet, so nehmen Sie bitte nicht an unserer Séance teil, schalten Sie den Fernseher einfach aus“, begann der Mediator sein Programm.

Während die Regie in den ersten 20 Minuten des televisionären Spektakels den Hypnotiseur in Großaufnahme auftreten ließ, offenbarte eine anschließende Überblendung den Ort des Geschehens. Kaspirowskis befand sich auf dem Podium eines Kinosaals, von dem aus er seine telepathische Botschaft unters Publikum brachte. Erst die Ikonografie der dritten und letzten Einstellung ließ das politische Motiv der Sendung deutlicher werden. Während der Blick des vor seinem Monitor sitzenden Zuschauers einem Schwenk über den Kinoraum folgte, wurde der Kopf des Hypnotiseurs eingeblendet, was seine Wirkung nicht verfehlte – jetzt war die suggestive Aura der Sendung kaum mehr zu leugen. In dieser hypnotischen Kraft, die Kaspirowski nach eigenem Bekenntnis nicht durch Worte entfaltete, sondern – als Zuschauer konnte man an dieser Stelle nur lächeln und Schlussfolgerungen ziehen – durch reine Gedankenkraft, war keine eindeutige Botschaft auszumachen. Der Magier sprach nicht von den politischen Zäsuren, die der Sowjetunion unter Gorbatschow widerfuhren, von gesundheitlichen Nöten oder intellektuellen Einbußen des Landes. Er wollte lediglich eine Art Metadiskurs, der sich einer klaren Definition entzog und gerade darin seine eigentliche Botschaft glaubte. Der Zuschauer sollte sich also durch diese Telepräsenz nur entspannen, wie es Anatoli Kaspirowski suggerierte und sich gedanklich auf „neue Herausforderungen“ einstellen sowie die eigene Kreativität anregen: „Ihr Gedanke ist eine Nadel, und Sie sind ein Faden, der ihr folgt.“

Neben der „gedankenkräftigen“ Telepathie soll die Heilkraft der Séance durch die Einnahme aufgeladenen Wassers bis zur nächsten Sitzung weiterwirken, daher forderte der mutmaßliche Wunderheiler die Zuschauer zu Beginn jeder Sendung auf, ein Gefäß mit Wasser bereitzustellen. Durch den Genuss des „aufgeladenen“ Wassers sollte das „erkrankte Unbewusste“ des Landes geheilt werden, um dem vom Alltag geschwächten Bewusstsein des Volkes die Ziele des Kommunismus neu einzuprägen. Wenn man so will, waren diese Sendungen letzten Endes darauf bedacht, die Zuschauer in die Lage zu versetzen, sich von den teilweise schockierenden Nachrichten aus den einstigen Bruderstaaten in Mittelosteuropa zu erholen.

Als der Kalte Krieg zu Ende ging, in den öffentliche Meinungsbilder wie selbstverständlich strategisch eingebunden waren, ließen sich die Sowjetbürger also von einer televisionären Therapie bannen. Eine öffentliche Wunderheilung, mit der die Sowjetmacht per TV zum letzten Mal versuchte, die Gedanken ihrer Bürger an sich zu binden und die öffentliche Existenz auf noch nicht vollends erloschene Visionen neu einzustimmen.


Wladimir Velminski ist Dozent am Slawistischen Seminar der Universität Zürich

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