Bis 20. Oktober 2016 bleibt Pjotr Pawlenski in Untersuchungshaft. Der russische Künstler sitzt seit 9. November 2015 im Gefängnis, nachdem er zum Auftakt seiner Aktion Bedrohung die Tür des russischen Geheimdiensts FSB in Moskau anzündete und sich verhaften ließ. In den vergangenen Tagen war Pawlenski ständiger Gast vor Moskauer Gerichten. Am 26. und 27. April wurde über seine Aktion Freiheit verhandelt, bei der er auf einer Brücke in St. Petersburg Reifen anzündete, um darüber seine Verbundenheit mit den Ukrainern auf dem Maidan zu symbolisieren. Deshalb ist er wegen ideologisch motiviertem Vandalismus angeklagt. Einen Tag später, am 28. April, sollte die lang erwartete Vorverhandlung über die Aktion Bedrohung stattfinden. Der Termin fiel kurzfristig aus. Die Richterin verlegte die Verhandlung auf den 4. Mai und verlängerte die Inhaftierung des Künstlers um ein halbes Jahr. Am 4. Mai wurde die Sitzung wieder vertagt, und so werden kommende Woche zwei Prozesse parallel stattfinden: Am Montag steht die Aktion Freiheit, zwei Tage später die Aktion Bedrohung auf dem Plan der Moskauer Gerichte.
Die russische Kunstszene erwartet sie mit großer Spannung, denn das Werk Pawlenskis ist erst vollendet, wenn er das „Material“ der Macht – Festnahmeprotokolle, Verhöre, psychiatrische Diagnosen mitsamt den jeweiligen Akteuren – gesichert und der Öffentlichkeit präsentiert hat. Und so haben sich auch die Prozesse längst zu wahren Spektakeln der politischen Kunst entwickelt. Am jüngsten Prozesstag rief die Verteidigung drei Frauen auf, die durch ihre aufdringliche Bekleidung und ihre Aussage auffielen, Pawlenskis Aktionen hätten nichts mit Kunst zu tun, er male ja keine Blumen. Kurz nach der Sitzung sagte Pawlenski, dass es sich bei den Frauen um Prostituierte handelte, die er eingeladen habe. Als nächste Experten der Verteidigung kamen drei Obdachlose an die Reihe. Offensichtlich hat Pawlenski, auch während er im Gefängnis sitzt, die Zügel in der Hand und möchte die Menschen dazu bringen, über seine Aktionen nachzudenken und sie wirklich zu reflektieren. Ansonsten schweigt er vor Gericht. Die Human Rights Foundation gab unterdessen bekannt, dass sie Pjotr Pawlenski den „Václav-Havel-Preis für kreativen Dissens“ verleihen wird.
Den folgenden Text Heroisierungen, in dem er seine Ambitionen und Ziele verdeutlicht, hat er in den vergangenen Tagen hinter Gittern verfasst.
Heroisierungen
Im Kontext der politischen Kunst schweigend der Rolle des Helden zuzustimmen, würde bedeuten, sich selbst als Herakles oder Jesus Christus zu kennzeichnen. Etwas anderes als demonstrative Selbstzufriedenheit ist darin schwer zu erkennen. Und dennoch lohnt es sich, etwas genauer auf den Begriff „Held“ zu schauen. Er wird in verschiedenen Milieus verwendet, beinhaltet aber jeweils ein praktisch identisches System von Beziehungen, Charakteristiken und Bedeutungen.
Da ist erstens die Sprache der Kriegerschaft. Sie ist Teil ihres Arsenals von Anerkennungen, Privilegien und Prämien. Held der Sowjetunion, Held irgendeiner Schlacht und so weiter. Der Krieg sättigt sich und kriecht auf andere Kontinente hinüber. Die ewig hungernde Macht des Militärs kriecht hinter ihm her. Wie ein Geschwür breitet er sich über andere Länder aus, ohne dabei das heimische Nest zu verlassen. Somit ist schon das militärische System von Anerkennungen in die soziale Organisation in Friedenszeiten integriert. Es sind dieselben Orden und Medaillen, doch nun heißen sie Held der Arbeit, Mutter-Heldin, der Status des „Helden“ wird für „besondere Verdienste“ oder „Aufopferung“ vor dem Produktionsapparat und der Staatskontrolle verliehen.
Der zweite Bereich ist die griechische Mythologie. In der Mythologie ist der „Held“ noch nicht Gott, aber auch kein Mensch mehr. Ihre „Helden“ sind halbgöttlicher Abstammung. Die Logik der Mythologie hat ihnen die Rolle der unehelichen Bastarde zugesprochen, die dazu verdammt sind, zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen zu baumeln. Der Schwe-bezustand und der Wunsch nach Allmacht verdonnern sie dazu, die göttliche Autorität immer wieder anzugreifen.
Neben der Mythologie hat Griechenland dem „Helden“ einen Platz auf dem Altar der griechischen Tragödie zugesprochen – als „tragischer Held“. In Totem und Tabu schreibt Sigmund Freud dazu:
Warum muß aber der Held der Tragödie leiden, und was bedeutet seine „tragische“ Schuld? [...] Er muß leiden, weil er der Urvater, der Held jeder großen urzeitlichen Tragödie ist, die hier eine tendenziöse Wiederholung findet, und die tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muß, um den Chor von seiner Schuld zu entlasten. Die Szene auf der Bühne ist durch zweckmäßige Entstellung, man könnte sagen: im Dienste raffinierter Heuchelei, aus der historischen Szene hervorgegangen. In jener alten Wirklichkeit waren es gerade die Chorgenossen, die das Leiden des Helden verursachten; hier aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern, und der Held ist selbst an seinem Leiden schuld. Das auf ihn gewälzte Verbrechen, die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held – noch wider seinen Willen – zum Erlöser des Chors gemacht.
Die Schlüsselbegriffe dieses Zitats sind: „muß leiden“ und „tragische Schuld [...] auf sich nehmen“. Offensichtlich erscheinen die Pflicht des Leidens und die tragische Schuld hier als unzertrennliche Teile je-der gegen die Macht gerichteten Tat.
Doch letztlich ist der tragische Held nichts weiter als eine Rolle. Ein Schauspieler in einem Kostüm auf der Bühne, die Auflösung ist vorherbestimmt. Genau wie der Held eines Kinofilms ist er gespalten und niemals der, für den er sich ausgibt.
Diese Beispiele geben einen Einblick, welche Konnotationen das Wort „Held“ in sich trägt. Diese sind: Dienst, Knecht, Verdienste, Opfer, Schuld, Leiden, Strafe, Pflicht, Rolle, Bühne. Historisch gesehen sind sie mit gewissen Handlungen verbunden, denen eines Soldaten, eines Schauspielers oder eines sich opfernden Schafs. Doch ein Soldat, ein Schauspieler, ein Schaf, Jesus Christus oder Herakles sind keine Künstler. Und ein Künstler ist niemals ein „Held“, weil eben ein „Held“ auch ein Opfer ist, das die Gemeinschaft ins unersättliche Maul der Macht wirft.
Meine Aufgabe ist es, die Grenzen und Formen der politischen Kunst zu behaupten. Politische Kunst ist kein Werkzeug. Im Gegenteil ist die politische Kunst bestrebt, sich die Werkzeuge der politischen Kontrolle zu unterwerfen und diese so auszurichten, dass die Kunst ihre Ziele erreicht. Die Verwandlung des Lebens in die Sprache des Statements könnte als Ziel der Kunst bezeichnet werden. Dies hat absolut keine Beziehung zum Heldentum und zum Opfer. Ich habe mich niemals geopfert, ich habe nichts geopfert, und ich opfere mich auch jetzt nicht. Auf die zu erwartende Erwiderung in Bezug auf meine Haft kann ich eine räumliche Bewegungsbegrenzung nicht bestreiten. Doch diese Tatsache wird durch den Überhang an Zeit ausgeglichen. Vernünfti-ger ist es, darauf wie auf Urlaub zu schauen, wie auf eine Reise in ein Erholungsheim. Man kann im Gefängnis zwar nicht von der „Gefangenschaft des Alltags“ genesen, und doch nähert sich diese Blickrichtung viel eher dem eigentlichen Kern. Während zwischen dem Vek-tor des Heldentums und dem Vektor der politischen Kunst eine Kluft herrscht.
Übersetzung: Wladimir Velminski
Voller Körpereinsatz
Pjotr Pawlenski wurde am 8. März 1984 im heutigen St. Petersburg geboren und studierte dort Malerei. 2012 nähte er sich aus Protest gegen die Inhaftierung der drei Mitglieder von Pussy Riot den Mund zu. Auf die Aktion Naht folgten 2013Kadaver und Fixierung: In St. Petersburg legte der Künstler sich nackt in einer Stacheldrahtrolle vor das Parlamentsgebäude, in Moskau nagelte er seinen Hodensack auf dem Roten Platz fest.
Pawlenski verbildlicht auf brutale Art, wie das autoritäre Handeln des Staats die Würde der Bürger antastet. Psychiatrische Diagnosen, zu denen er nach jeder Aktion polizeilich angewiesen wird und die ihm stets volle geistige Gesundheit attestieren, kommentierte er 2014 mit der Aktion Abtrennung: Auf der Mauer des Moskauer SerbskiInstituts für Psychiatrie schnitt er sich in Anlehnung an Van Gogh ein Ohrläppchen ab
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