Was von einer Idee übrig blieb

Europa Vor 20 Jahren startete das politische Projekt Europäische Union. Geblieben sind Debatten um unerfüllte Konvergenzkriterien und die Eurokrise. Doch es gibt Hoffnung

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Konstruktiv gestimmt: Abstimmung im Europaparlament
Konstruktiv gestimmt: Abstimmung im Europaparlament

Foto: FREDERICK FLORIN/ AFP/ Getty Images

In diesen Tagen feiern – oder sagen wir weniger euphorisch – begehen wir das zwanzigjährige Jubiläum des Inkrafttretens der Maastrichter Verträge, das grundsteinlegende Abkommen für die Europäische Union, wie wir sie heute kennen. Oder auch nicht. Denn in der Rückschau auf dieses Ereignis konzentrieren wir uns verständlicherweise vor allem auf eine wichtige Begleiterscheinung des Maastrichter Vertragswerks, die die politische Debatte die letzten Jahre mehr als alles andere bestimmt hat: der Euro. Die 1993 in Auftrag gegebene Schaffung des gemeinsamen Währungsraumes mit ihren schicksalshaften Konvergenzkriterien ist für die gegenwärtige Schuldenkrise das zentrale historische Moment, das für den aktuellen Europadiskurs einzig und allein von Relevanz erscheint.

Wo sind Europas Bürger?

Doch waren die Weichenstellung für den Euro und die Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes nicht die einzigen Innovationen, die in der kleinen niederländischen Stadt an Maas beschlossen wurden und die Zukunft der neuen Europäischen Union bestimmen sollten. Am Morgen des 1. November 1993 wachten rund 342 Millionen Menschen in zwölf europäischen Nationen mit einem neuen Status auf: Sie waren fortan nicht nur Staatsbürger ihres Landes, sondern ebenso Bürger der EU, mit unionseigenen Rechten und Freiheiten. Als Unionsbürger war es nun jedem gestattet, sich frei innerhalb der Unionsgrenzen zu bewegen, sich an Europa- und Kommunalwahlen aktiv und passiv zu beteiligen sowie sich mithilfe von Petitionen an EU-Institutionen zu wenden. Neben der wirtschaftlichen Freizügigkeit sind vor allem die partizipativen Rechte ein Ausweis des zweiten, heute oft vergessenen Markenkerns der europäischen Integration: die Silhouette eines politischen Projekts, die in der Demokratisierung über nationalstaatliche Grenzen hinweg Vollendung finden sollte.

Doch während sich in den vergangenen zwanzig Jahren die Institutionalisierung geschweige denn Konstitutionalisierung einer Idee von transnationaler Demokratie in kaum wahrnehmbaren Maße vollzogen hat, entzündete sich die Debatte regelmäßig um das demokratische Defizit der EU, um die entfesselte Brüsseler Bürokratie, dessen Entscheidungsfindungen fern der lebensweltlichen Realität ihrer Bürger stattfinden. Dass die demokratische Qualität in Zeiten der Krise weiterhin verwässert, verkommt zur Binsenweisheit. Hier stellt sich jedoch die Frage: Wer ist die Europäische Union, wer konstituiert dieses einmalige politische Gebilde wirklich? Oder anders: Wer sollte es bilden? Die Maastrichter Verträge sprechen hier von einer Union der Völker Europas, dort von Bürgerinnen und Bürgern, aber eben auch von Staaten als Konstituenten der Union. Die Realität im EU-System hingegen favorisiert eindeutig die Regierungen der Mitgliedstaaten. Sie sind es die über Rettungsschirme und Schuldenschnitte entscheiden; Merkel, Hollande und Cameron prägen die Leitlinien europäischer Politik.

Auf überstaatlicher Ebene scheint dabei aber die demokratische Legitimation auf der Strecke zu bleiben, eine Transnationalisierung der Volkssouveränität nach habermasschem Diktum findet realiter nicht statt. Ist jedoch nicht genau der Prozess der Einbeziehung der Bürgergesellschaft eine unabdingbare Komponente auf dem Weg der Demokratisierung? Und hier geht es nicht um die zähen Auseinandersetzungen um eine gemeinsame europäische Identität, die längst von ethnokulturellen und nationalistischen Tendenzen überlagert zu sein scheinen. Im besten liberaldemokratischen Sinne steht hier eine annähernd gleichberechtigte Beteiligung des europäischen demos – gemeint ist die Menge der Unionsbürger – im supranationalen Institutionengefüge der EU zur Debatte.

Mehr Beteiligung ist möglich

Die Europäische Union, will sie in eine de facto demokratische Form gegossen werden, muss von ihren Bürgerinnen und Bürgern her gedacht werden, von dort, der kleinsten Einheit der Gesellschaft muss der Prozess der Legitimation seinen Ausgangspunkt nehmen. Und tatsächlich: Trotz des allgemeinen Verdruss‘ über die demokratische Evolution des acquis communautaires der EU hat sich mit dem Vertrag von Lissabon 2009 ein vielleicht demokratieförderndes Licht am Ende des Tunnels ergeben. Neben die Unionsbürgerartikel platzierte man das partizipative Werkzeug der Europäischen Bürgerinitiative (EBI).

Mit dessen Hilfe sollte es für EU-Bürger ermöglicht werden, durch Unterschriftensammlung die Kommission auf bestimmte politische, wirtschaftliche oder soziale Problemlagen in der EU aufmerksam zu machen. Auch politische Minderheiten sollten nunmehr eine Stimme in Brüssel erhalten. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer Initiative ist die Aktivierung von einer Million Unterstützern in mindestens sieben EU-Mitgliedsstaaten. Eine gewaltige Hürde, dessen Überwindung jedoch die EBI zum einflussreichen Medium der politischen Meinungsartikulation werden lassen kann. Unter Umständen ein Schritt hin zu einer demokratischeren Europäischen Union.

Eine europäische Öffentlichkeit als Ziel

Und dennoch: Jede Form des politischen Protests braucht Öffentlichkeit. Und für eine erfolgreiche EBI reicht nationale Aufmerksamkeit nicht aus, sie muss faktisch Grenzen überschreiten. Eine Initiative, die diesen Weg zielstrebig verfolgt und damit bisher das größte Publikum erreichen konnte, ist right2water. Der Kampagne, die im Zuge der Debatte um die Privatisierung der staatlichen Wasserversorgung in ihrem Vorschlag ein Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung fordert, gelang es, über 1,8 Millionen Unterschriften zu sammeln. Mit nachhaltiger Wirkung: Bereits im Sommer nahm die Kommission die Wasserversorgung von der Liberalisierungs-Agenda. Dabei beruht der Erfolg im Wesentlichen auf polymedialer Eigeninitiative (groß angelegter Auftritt in sozialen Medien wie facebook, twitter etc.) und der Unterstützung eines breiten gewerkschaftlichen Netzwerkes, vor allem aus Deutschland. Für die deutsche Öffentlichkeit war right2water allenfalls eine Randnotiz, obwohl rund 1,4 Millionen Unterschriften von Bundesbürgern kamen. Andere, weniger ressourcenstarke Initiativen schaffen es erst gar nicht ins Licht der medialen Öffentlichkeit, sie scheitern meistens schon in der Embryonalphase.

Soll jedoch in Zukunft dieses Instrument zu einem erfolgversprechenden Baustein partizipativer Demokratie auf EU-Ebene werden, müssen nationale Leitmedien die kontroversen Themenfelder der EBIs mit auf die Agenda nehmen und auch die Diskurse anderer Mitgliedsstaaten zu den Problemen rezipieren. Erwähnter Habermas hat bereits vor mehr als einem Jahrzehnt auf die Notwendigkeit einer „Transnationalisierung bestehender nationaler Öffentlichkeiten“ hingewiesen.

Demnach könne sich über einen gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang eine staatsbürgerliche Solidarität jenseits nationaler Grenzen entwickeln. Nationale Medien, die über europäische Entscheidungsprozesse und –effekte im großen Stil informieren, vermögen die vom Prozess zunehmend ausgeschlossenen Unionsbürger in eine aktive, politisierte Bürgergesellschaft zu überführen. Eine Entwicklung, die für das verheißungsvolle Instrument der Europäischen Bürgerinitiative ohne Zweifel von Vorteil wäre. Gewiss ist das Mittel der EBI nur kleines Steinchen im Mosaik der europäischen Demokratie, das noch lange unvollendet bleiben wird. Und freilich ist die Zahl der Kritiker nicht gering, die in der Initiative nur ein Sedativum in der Debatte um das Demokratiedefizit sehen. Letztlich jedoch würde das Sichtbarmachen dieser kleinen Chance auf mehr Beteiligung in jedem Fall die vor zwei Dekaden in Maastricht formulierte Vision einer demokratischen Europäischen Union der Bürger wiederbeleben.

Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Suhrkamp, Berlin 2011.

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Geschrieben von

Wochlop

Meine Dinge: Medien und Politik.

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