Dieses Restaurant ist hervorragend. Aber es hat einen Nachteil: Es gibt hier keine Parkplätze!“, sagt Mengkeertu, ein 35-jähriger Angehöriger der mongolischen Minderheit in China, und verdreht sich den Hals. Keine Parkplätze, das soll heißen: Nicht direkt vor der Tür – 30 Meter weiter gäbe es schon noch welche. Die Kreisstadt Balgar Gol, die Hauptstadt des Xiwuzhumuqinqi-Banners ganz im Norden der Autonomen Region Innere Mongolei, hat nur 30.000 Einwohner – aber sechsspurige Straßen und zehn Meter breite Bürgersteige. Und deswegen, normalerweise, auch genügend Parkplätze.
Kein Wunder also, dass die meisten Einwohner mit ihrem ehemaligen Parteisekretär Hai Ming zufrieden waren: „Er schien von seiner Ausbildung her Architekt oder Stadtplaner zu sein“, erklärt Mengkeertu „Und er hat sich wirklich sehr um die Stadt gekümmert. Wem das alte Dach überm Kopf abgerissen wurde, der bekam nach Möglichkeit am gleichen Ort eine Wohnung mit der gleichen Quadratmeterzahl als Entschädigung.“
Außer den etwas überdimensionierten Regierungsbauten gibt es in Balgar Gol auch mehrere Parks, ein neues Wärmekraftwerk und ein eben solches Hospital. Egal in welche Richtung man sieht: Überall wird gebaut. Trotzdem ist Hai Ming seines Postens enthoben worden. Nach erregten Demonstrationen, die hier inzwischen „der Vorfall“ genannt werden. Sie haben damit zu tun, dass sich Hai Ming zu sehr um die Stadt gekümmert hat. So sehr, dass ihm für die umliegenden ländlichen Areale gar keine Zeit mehr blieb.
Chemie in den Himmel
Zum Beispiel gibt es im knapp hundert Kilometer entfernten Distrikt Xilin Gol eine jener halblegalen Kohleminen in chinesischem Besitz, wie sie in dieser Region während der vergangenen Jahre überall entstanden sind. Zu dieser Grube führt nur eine einzige Zufahrtsstraße. Und die ist von den mit 80 Tonnen Kohle überladenen Lastwagen längst auf eine Abfolge von Schlaglöchern und Querrinnen reduziert worden. In der Inneren Mongolei muss das kein Verkehrshindernis sein. So fahren die Transporter ihre Fracht eben neben der Straße übers Grasland. Und falls sich dort die Räder tief durch die dünne Erdschicht und in den weichen Sand darunter gewühlt haben, fahren die Trucks noch eine Spur weiter außen. Und dann noch eine und noch eine. Irgendwann wurde das den Mongolen zu viel. Denn in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren, als die Reformpolitik von Deng Xiaoping zu greifen begann, war das Land auf sie verteilt worden. Pro Kopf gab es je nach Lage zwischen 750 und 1.500 Mu – das entspricht in etwa der Fläche von 70 bis 140 Fussballfeldern.
Wer sein Land später wegen des Bergbaus hergeben musste, der bekam um die 1.000 Yuan (etwa 102 Euro) pro Mu Entschädigung. Niemand empfand das als zuviel, doch immerhin. Für die Landeigner freilich, deren Weidegebiete direkt neben den Bergwerken lagen, gab es gar nichts. Und das, obwohl dort beim kleinsten Wind Staubsäulen aufsteigen und in dichten Schleiern über die Landschaft wehen. Wenn die bis oben hin mit Kohle beladenen Lastwagen vorbei fahren, sind sie von Staub- und Rußwänden umgeben, dass kein Rad mehr zu sehen ist.
Die mongolischen Siedler sind sich einig – die Bergbauunternehmen allein sind schuld, wenn das Gras jetzt nur noch knöchel- und nicht mehr wie früher kniehoch wächst. Freilich kann auch Überweidung der Grund für diesen Schrumpfwuchs sein, weil von den meisten bäuerlichen Wirtschaften nur noch die gut verkäuflichen Schafe gezüchtet werden – Rinder oder Kamele schon lange nicht mehr. Manche meinen auch, das Gras wachse nicht nach, weil die Bergwerks-Betreiber Chemikalien in den Himmel schießen, um die Wolken aufzulösen. Wie auch immer – die Kohleminen sind für die Züchter von Übel, daran gibt es weder für Mongolen noch Chinesen auch nur den geringsten Zweifel.
Also blockierten Anfang Juni etwa 20 mongolische Viehhirten den Weg zwischen dem Sarula Gacha, wie ihre Gemeinden genannt werden, und dem Jiliguole-Tagebau Nr. 2 mehrere Tage lang. Bis einer der chinesischen Lastwagenfahrer – alle Minen-Angestellten kommen stets aus der Heimatregion des Minen-Eigentümers oder -Direktors und sind nie Mongolen – die Nerven verlor (die Fahrer werden pro Fahrt bezahlt und nicht pro Monat). Li Lindong überfuhr einfach einen der Demonstranten, einen dreißigjährigen Mann namens Morigen – und soll dann noch gesagt haben, für einen toten Viehhirten seien 200.000 Yuan Entschädigung allemal ausreichend. Dass es eine solche Aussage wirklich gegeben hat, erscheint jedoch eher unwahrscheinlich.
Laut Polizeibericht wurde das Opfer 150 Meter weit mitgeschleift, anschließend ergriff der Fahrer die Flucht. So zumindest wird es von den mongolischen Siedlern erzählt. Ein paar Tage später sollte vor dem Regierungsgebäude in Balgar Gol des „toten Helden aus dem Grasland“ gedacht werden. Natürlich war die Stadtregierung mit Polizei und Militär zu Stelle und riegelte sämtliche Zufahrtswege, Plätze und Straßen ab.
Womit keiner gerechnet hatte, war der Umstand, dass die Schüler der zwei mongolischen Mittelschulen an jenem Tag ihre Schultore aufbrachen und einen langen Demonstrationszug durch ganz Balgar Gol formierten. Vereinzelt flogen sogar Steine. Und dieser Aufruhr kostete Parteisekretär Hai Ming schließlich seinen Job: Die Zentrale in Peking bietet Kadern, die nicht für mindestens acht Prozent Wirtschaftswachstum sorgen, keine guten Positionen. Das Xiwuzhumuqingqi-Gebiet hat die Wachstumsvorgabe weit übertroffen – allein 2010 wuchs das Bruttosozialprodukt hier um 29 Prozent und der sekundäre Sektor, womit unter anderem die Bergwerke gemeint sind, sogar um 41 Prozent. Aber was nutzt das? Für Kader, die Massenproteste nicht verhindern und die Sorge um „gesellschaftliche Stabilität“ vermissen lassen, gibt es nur den Rauswurf oder eine Bewährung an anderer Stelle.
Am besten ein Landrover
Inzwischen wurde in Balgar Gol bereits alles Erdenkliche unternommen, um die Stabilität wieder herzustellen. Der Fahrer Li Lindong ist zum Tode verurteilt, und der neue Parteisekretär Siqinbilige verlangt, die Betreiber der Kohleminen sollten in Zukunft auch Anrainer ihrer Gruben gebührend entschädigen. Etwa 500 Yuan pro Jahr und Mu sind im Gespräch, zwar nur im Umkreis von einem Kilometer, aber vorerst wird das reichen. Den meisten mongolischen Viehhirten geht es mehr ums Geld als um „ihr Land“. Sie träumen von einer Wohnung in Balgar Gol, am besten mit 120 Quadratmetern Fläche, Balkon und Fahrstuhl und einem Auto vor der Tür – einem Landrover, wenn es geht.
Auch Mengkeertu vermietet seine 800 Mu und arbeitet lieber in der Stadt als Verkäufer von luftgetrocknetem Lammfleisch, einer lokalen Spezialität. Weil die Straße in seinem alten Gacha noch nicht asphaltiert ist und er sein Auto schonen will, fährt er nur sehr selten „heim“. Wenn er aber dorthin unterwegs ist und ihm die Spurrillen zu tief werden, lenkt er – ohne nur eine Sekunde zu zögern – eine Spur weiter draußen durchs Gras. Außerdem gibt es seit kurzem oberhalb vom Mengkeertus Weiden eine Bleimine. Weil das ein Bergwerk und kein Tagebau ist, hat sich Mengkeertu bisher nicht groß darum gekümmert. Er kennt nur Qian, das chinesische Wort für Blei. Es in einem Chinesisch-Mongolischen Wörterbuch nachzuschlagen, erscheint ihm zu mühevoll. Deswegen weiß er gar nicht genau, was das eigentlich ist.
Endlich hat Mengkeertu in Balgar Gol ein Restaurant gefunden, bei dem er direkt vor der Tür parken kann. Als er den Motor ausstellt, biegen zwei chinesische Wanderarbeiter um die Straßenecke. Selbst mit ihren Bauarbeiter-Helmen sind sie noch gut zwei Köpfe kleiner als ihr mongolischer Landsmann. Der eine trägt ein großes Stück Tofu und ein paar Mantou, das sind Hefeteig-Klöße ohne Füllung, in einer durchsichtigen Plastiktüte, der andere einen Beutel mit Reis – wohl das heutige Abendessen. Ein durchschnittliches Gericht in dem mongolischen Restaurant, das Mengkeertu jetzt gleich betreten wird, kostet mehr als das Zwanzigfache.
Wolf Kantelhardt ist derzeit als Reisekorres-pondent in der Inneren Mongolei unterwegs
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