Wie die Chinesen fühlen

Wer ist Verbohrt? Während die meisten Europäer glauben, das Gros der Chinesen sei brainwashed durch Propaganda, wussten die Chinesen schon immer: Europa wird durch seine verlogene Presse fehlinformiert. Gemeinsam ist beiden nur ihr Unwissen über Tibet

Großen Respekt [dem berühmten Poeten] Li Bai, schon in der Tang-Dynastie hat er Frankreich beschimpft", heißt es in einer SMS. Es folgt ein Gedicht über eine Berglandschaft in der Abenddämmerung, bei dem, die jeweils ersten und letzten Zeichen jeder der vier Zeilen aneinander gereiht, fa guo qu si (deutsch: Tod für Frankreich) und jia le fu wang (deutsch: Carrefour stirb) ergeben. Die Nachricht schließt mit einer Aufforderung: "Bitte leite diese SMS an alle weiter, dass [wir] Chinesen einmal stolz sein können". Stolz sein auf einen über 1.200 Jahre alten Mordaufruf, der sich gegen eine französische Supermarktkette richtet? Auch wenn das Gedicht nicht in klassischem Chinesisch abgefasst wäre, hätten die meisten Europäer Verständnisprobleme. Aber auch das Gros der Chinesen versteht nicht, weshalb als Protest gegen die Plünderung von chinesischen Läden in Lhasa ihrer im Rollstuhl sitzenden Sportlerin Jin Jing in Europa die Olympia-Fackel aus der Hand gerissen wurde.

Am 22. März, dem Tag, als die letzten westlichen Journalisten aus Tibet ausgewiesen wurden, begann in China die Kampagne gegen die "verzerrte Berichterstattung im Westen". Auf den Titelseiten der chinesischen Zeitungen erschienen Screenshots der Websites westlicher Medien: CNN zeigte ein Foto der Straßenschlachten in Lhasa, allerdings nicht im ursprünglichen Format, sondern ohne die tibetischen Steinewerfer am rechten Bildrand. Auf dem Foto, mit dem die BBC die "starke Militärpräsenz in Lhasa" deutlich machen wollte, stehen Männer in Tarnanzügen in Wirklichkeit an der offenen Hecktür eines Krankenwagens. Auf den Websites von Washington Post, FOX, N-TV, RFI, RTL und Bild wurden Bilder aus Nepal verwendet, um Nachrichten aus Tibet zu illustrieren.

Ein weiterer Screenshot zeigt das Fotos eines Mannes, der von Uniformierten weggezerrt wird. "Ein Aufständsicher wird ... von Sicherheitsbehörden abgeführt", meldete die Website der Berliner Zeitung dazu. Bei dem Mann soll es sich aber laut chinesischen Medien um einen von der Polizei vor dem Mob geretteten Chinesen handeln. Für die Chinesen ein typisches Beispiel: Sie gehen davon aus, dass die westlichen Medien die Öffentlichkeit über die Vorgänge in Lhasa getäuscht hat und glauben sogar, dass sie die Opfer auf chinesischer Seite komplett verschwiegen hätten.

Die chinesische Berichterstattung über Tibet wartet mit einer großen Fülle von Finanz- und Wirtschaftsstatistiken auf: 9 von 10 Renminbi (RMB), die die tibetische Regierung ausgibt, stammen aus Transfers der Zentralregierung. Zusätzlich dazu flossen 9,3 Milliarden RMB chinesische Hilfsgelder in 2.816 tibetische Projekte ... Doch das interessierte die meisten Chinesen wenig. Sie sind vehemente Gegner einer tibetischen Unabhängigkeit. Sie glauben vage, dass der Dalai Lama kein besonders guter Mensch ist. Genauso waren die Chinesen bereits vor dem 22. März davon überzeugt, dass die westlichen Medien nichts Gutes über China berichteten. Das wird in dem per Email weit verbreiteten Gedicht Wie die Chinesen fühlen deutlich:

Wir probierten den Kommunismus, um gleicher zu sein. / Ihr habt uns dafür gehasst, dass wir Kommunisten sind. / Jetzt befürworten wir freien Handel und privatisieren. / Ihr beschimpft uns als Merkantilisten.

Halt! Ihr habt verlangt: 1,3 Milliarden [Chinesen], die gut essen, zerstören den Planeten!

Deswegen probierten wir es mit Geburtenkontrolle. / Dann habt ihr uns wegen Menschenrechtsverletzungen verdammt. ...

Doch durch den Abdruck der Screenshots hatten es die Chinesen zum ersten Mal direkt vor Augen, wie in den westlichen Medien über ihr Land berichtet wurde. Diese, aus ihrer Sicht absichtlich falsche Berichterstattung, verärgerte sie zutiefst. Seitdem schwappt eine Welle des Nationalismus über das Land, wie es sie seit der NATO-Bombardierung der Belgrader Botschaft vor neun Jahren nicht mehr gegeben hat. Carrefour traf es im Gegensatz zur Belgrader Botschaft nur zufällig: Wegen einiger Äußerungen von Präsident Sarkozy, wegen der Zwischenfälle beim Pariser Fackellauf und wegen eines Gerüchts im Internet, der Hauptaktionär Carrefours, Louis Vuitton Moët Hennessy, unterstützte finaziell die Dalai-Lama-Clique. Per SMS wurde zu einem Boykott aufgerufen: " ... Lasst die ganze Welt die Kraft der Solidarität des chinesischen Volkes erkennen, am 1. Mai sollen die Carrefour im ganzen Land leer bleiben - wenn Du dies 20 Mal weiterleitest, bist Du der patriotischste Chinese".


1. Mai 2008, Peking, Carrefour, Chuang Yi Jia Filiale. Die jungen Männer haben vor dem Eingang gewartet. "Franzose?" Ein stämmiger Chinese kommt einen Schritt näher. Er hat kurz geschorenes Haar und trägt eine Trainingshose. Eine große Narbe auf dem muskulösen Unterarm und ein finsterer Blick lassen ihn bedrohlich wirken. Als er erfährt, dass der Ausländer ein Deutscher ist, entspannt sich seine Miene etwas. Aber eine Frage will er noch anbringen: "Weltfrieden ist doch gut, oder?" Als ihm nicht widersprochen wird, entspannt er sich weiter. "Ich bin hier, um zuzusehen", verrät er. Viel zu sehen gibt es nicht: eine Countdown-Uhr über dem Eingang, die anzeigt, dass es noch 99 Tage bis zur Eröffnungsveranstaltung sind, daneben der Satz: "China vor!" Darunter Kunden, die volle Einkaufstüten nach Hause schleppen.

"Normalerweise wären es an einem 1. Mai viel mehr Kunden", behauptet der Chinese trotzig. Da hat er recht, viel ist nicht los. Das einzig Interessante hier sind die fünf Polizeiautos vor der Tür, doch die rund 20 Polizisten haben nichts zu tun. Sie filmen ihre beiden Deutschen Schäferhunde mit einer Videokamera.


Die meisten Europäer glauben in Bezug auf Tibet genau das Gegenteil von den Chinesen: Sie sind felsenfest davon überzeugt, dass der Dalai Lama ein guter Mensch ist und befürworten vage eine tibetische Unabhängigkeit. Gemeinsamkeit herrscht höchstens darin, dass auch sie die Wirtschaftsstatistiken über Tibet nur wenig interessieren. Deshalb weiß auch kaum jemand, dass das Wirtschaftswachstum die letzten sieben Jahre in Folge über zwölf Prozent lag und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Tibet bereits 12.000 RMB überschreitet ... Alles, was China sagt, ist sowieso Propaganda. Die Chinesen in der Volksrepublik haben aufgrund mangelnder Pressefreiheit keine Ahnung, die Chinesen im Ausland sind brainwashed. Dieses Argument kam auch in Bezug auf die weltweiten Proteste von Chinesen gegen die "verzerrte Berichterstattung im Westen" am 19. April.

"Westliche Medien deuten an, die chinesische Regierung fache die Flamme des Nationalismus an, hätte aber auch Angst, die Kontrolle zu verlieren", sagt Professor Yu Wanli vom Forschungszentrum für Internationale Strategien an der renommierten Peking Universität, " ... immer denken sie, [die Unabhängigkeit der chinesischen Zivilgesellschaft] sei nicht echt". Der Vorwurf ist nicht unbegründet. Kaum jemand im Westen traut den chinesischen Medien zu, mehr als ein Sprachrohr ihrer Regierung zu sein.

Weil diese Unterstellung den Chinesen bekannt ist, steht auf der Website www.anti-cnn.com, die sich zum Sprachrohr der verärgerten Chinesen gemacht hat, gleich in den ersten Zeilen, die Site sei von Freiwilligen aufgebaut, die allesamt "in keinem Kontakt zu irgendwelchen Regierungsbeamten" stehen. Und ein Blogger fragt im Forum: "Ich weiß nicht, woher das kommt, dass die westlichen Medien immer denken, alle Chinesen, die Englisch könnten oder in der Lage seien, eine Website aufzubauen ... arbeiteten für die Regierung?"

Dabei ist das Internet auch in China pluralistisch. Es gibt Dummheiten wie den Aufruf, auch französische (Zungen-) Küsse zu boykottieren. Falschmeldungen, wie die Nachricht, die französische Regierung hätte Carrefour zwei Millionen Dollar zur Verfügung gestellt, damit in allen chinesischen Filialen am 1. Mai die Preise gesenkt und ausländischen Journalisten vorgeführt werden könne, wie voll die Filialen trotz Boykottaufruf wären. Appelle an das Organisationskomitee für die Olympiade (BOCOG), das Transportflugzeug, einen in Toulouse endmontierten Airbus A-330, gegen eine Boeing auszutauschen. Und auch lustige Beiträge, wie die Forderung nach "Freiheit für Korsika". Sollen doch Franzosen auch einmal spüren, wie es ist, wenn sich Ausländer auf die Seite von Seperatisten stellen, die eine Teilung des eigenen Landes fordern.

Angesichts dieser Meinungsvielfalt kann man kaum davon ausgehen, dass hier hauptsächlich Regierungsangestellte am Werk seien. Und Chinas 120 Millionen Internetnutzer haben Zugang zu dieser Meinungsvielfalt - mit Abstrichen. Denn "dizhi jialefu" (deutsch: Boykottiert Carrefour) ist derzeit auf den großen chinesischen Internet-Portalen sina (google.cn) und baidu als Suchbegriff verboten. Trotzdem gab es in den Blogs eine lebhafte Diskussion darüber - über 20 Millionen Internet-Nutzer sollen online Boykottaufrufe unterschrieben haben.

Andere Beiträge wiesen im Vorfeld des 1. Mai darauf hin, dass Carrefour in China mit zu 99 Prozent chinesischen Angestellten zu 99 Prozent in China hergestellte Produkte verkauft. Und in Bezug auf Li Bais Gedicht fand ein Blogger heraus, dass es in Wirklichkeit aus dem Roman Der Traum des Helden, Buch IV, 101 Kapitel, des Autors Yan Suixin stammt und mehrere Zeichen ausgetauscht wurden. Er schließt mit den Worten: "Patriotismus ist gut, aber Patriotismus bedeutet nicht, Menschen zu beschimpfen".

Dabei sind Chinesen sowieso viel schneller dabei, sich gegenseitig als "Volksverräter" zu beschimpfen, als Angehörige eines Volkes der nationalen Minderheiten rassistisch anzupöbeln. Selbst nach "3/14", wie die Straßenschlachten in Lhasa in China mittlerweile heißen, hörte man kaum irgendwo rassistische Sprüche gegen Tibeter.

Die einzigen, die im Zuge der Kampagne gegen die "verzerrte Berichterstattung" unter Gewalt zu leiden hatten, waren Chinesen: ein Herr Zhu in Kunming, der sich mit einem Schild: "Harmonie schaffen, gegen Boykotte" vor den dortigen Carrefour gestellt hatte und dafür mit Plastik-Mineralwasserflaschen beworfen wurde, sowie die Eltern der in den USA studierenden Chinesin Grace Wang. Die soll bei einer Demonstration auf dem Campus der Duke University in North Carolina auf der Seite tibetischer (oder zumindest nicht auf der chinesischer) Studenten gestanden haben. Dafür wurde die Wohnung ihrer Eltern in Qingdao verwüstet.

Der patriotischste junge Chinese vor dem Eingang des Carrefour ist inzwischen vollends aufgetaut. "Deutsche Autos sind von hoher Qualität", erklärt er. Und nach einem Moment des Nachdenkens fügt er hinzu: "Eigentlich sind wir zu Ausländern doch richtig freundlich, oder?"

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