Das Quasi-Volk

STAND DER EINHEIT Die Ethnisierung der Deutschen nimmt zu

Es ist wie mit der halb leeren oder halb vollen Tasse. Je nachdem, was man sehen will, man kann es finden im Wirrwarr der deutsch-deutschen Verhältnisse. Wer die zunehmende Angleichung und das Verschwinden der Unterschiede annimmt, wird durch eine Flut von Daten bestätigt, wie zuletzt Staatsminister Rolf Schwanitz (SPD) im Bundestag zur Aussprache über den Stand der Einheit. Wer das Gegenteil behauptet - wie Günter Nooke (CDU) an gleicher Stelle, kann genau so eindrucksvolle Belege anführen. Der deutsche Michel im Nebel der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Daten? Einsam und desorientiert, wie in jenem so unsäglich schlechten Gedicht von Hermann Hesse, dass es von mir sein könnte, mit dem Titel "Im Nebel": "Seltsam, im Nebel zu wandern!/ Einsam ist jeder Busch und Stein,/ Kein Baum sieht den andern,/Jeder ist allein"?

Direkt nach der Vereinigung bekannte sich die große Mehrheit auf die Frage, ob sie zuerst "deutsch oder ostdeutsch beziehungsweise westdeutsch" seien, zu ihrem Deutschsein. Inzwischen hat sich das umgekehrt. Zuerst kommt ostdeutsch und dann erst deutsch. Die Angst vor einem großdeutschen Nationalismus nach der Beitrittseinigung hat sich inzwischen als unbegründet herausgestellt, nicht aber die vor einem Ethnizismus mit der üblichen Ausgrenzung und Abwertung der anderen.

Und mit der Selbstethnisierung, die in den Umfragen deutlich wird, werden inzwischen gleichzeitig Quasivölker konstruiert. Besonders deutlich wird das, wenn man durchprobiert, ob es sich bei ost- oder westdeutsch vielleicht um geographische Bezeichnungen handeln könnte. Passau, weit östlich vom größten Teil Ostdeutschlands gelegen, gilt als Westdeutschland. West-Berlin ist vom genialen Cartoonisten Seyfried als der Westpol identifiziert worden. Denn so wie es am Nordpol überallhin nur nach Süden geht, so ist rund um West-Berlin nur Osten. Dass nun auch sie Wessis sein sollen, ist das große Leidwesen der West-Berliner. Und egal wo ich mich bewege in Ostdeutschland, ich bleibe der Westdeutsche. Es ist angeblich eine Eigenschaft, die durch Herkommen und persistierende Verhaltens- und Charaktereigenschaften definiert ist.

Zwei Drittel der Ostdeutschen geben in repräsentativen Befragungen an, dass sie sich in der Bundesrepublik als Bürger zweiter Klasse fühlen. Der Vereinigungsprozess war voller Demütigungen, und sein Resultat gibt der Selbsteinschätzung recht: Das Vermögen, die Immobilien, die Betriebe, die Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung sind überwiegend in westdeutscher Hand. Darauf reagieren viele in den neuen Bundesländern, die sich von ihrer Ausbildung und Biographie zurecht einen Anspruch auf vergleichbare Positionen ausrechnen, mit Ärger über die faktisch ethnisierende Demütigung und Ungerechtigkeit. Anstatt sich ins scheinbar Unvermeidliche zu fügen, setzen sie ein "East is beautiful" dagegen und geben ihrer von außen gesetzten faktischen Ethnisierung einen wenigstens symbolisch positiven Wert. Wir mögen nicht so viel verdienen wie ihr, aber wir haben die Moral! Dass die eigene symbolische Aufwertung immer zugleich die Selbstdefinition als Ethnie und auch die Abwertung der anderen - aus der Selbstdefinition Ausgeschlossenen - bedeutet, ist die unvermeidliche Konsequenz.

Ostdeutsche mit niedrigen Bildungsabschlüssen und untergeordneten Positionen merken darüber hinaus, dass sie an Einkommen, Sozialprestige und Lebenschancen innerhalb der ganzen Bundesrepublik schlechter dastehen als Ausländerinnen und Ausländer, die sich vor vielen Jahren schon in Westdeutschland etabliert haben. Obwohl sich ihre eigene ökonomische und soziale Situation meist wesentlich verbessert hat, sehen sie keine Chance, es wenigstens den westdeutschen Ausländern gleich zu tun, geschweige denn dem westdeutschen Mittelstand. Sie reagieren darauf mit einem anti-westlichen ethnischen Fundamentalismus, der sich zunehmend als Rassismus und Ausländerfeindlichkeit äußert.

Die Daten über die wachsende Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen, die uns von den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften geliefert werden, sind demnach gut interpretierbar als Ergebnis der anhaltenden Abwertung und Zurücksetzung der meisten Menschen in den neuen Bundesländern. Und nur noch die Zugehörigkeit zu der Spezies "Ostdeutsch" begründet beispielsweise Gehaltsunterschiede im Öffentlichen Dienst.

Aber was ist mit all den Daten, die zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen immer geringer werden, dass sie immer mehr Gemeinsamkeiten aufweisen? Auch sie sind leicht erklärbar: Wer in der neuen Bundesrepublik überleben will, darf sich ihren Regeln nicht nur widerwillig beugen, er muss sie sich zu eigen machen. Wer in einer Warengesellschaft existiert, kann sich der einheitlichen Warenwelt nicht entziehen. Unterschiede können nur noch abgelesen werden, wenn die einen sich etwas leisten können, von dem die anderen ausgeschlossen sind. Aber wo die Einkommen vergleichbar sind, wird die Warenfassade der Welt ununterscheidbar. Und schließlich: In der neuen Bundesrepublik setzen die westdeutschen Eliten die Markierungen für das, was in dieser Gesellschaft als Erfolg und Ehre gilt. Wer erfolgreich sein will in West wie Ost, muss sich nach diesen Marken strecken. Diese erzwingt von allen Anpassung und macht sie einander gleich. Doch dies ist eine Gleichheit, die von vielen so empfunden wird, wie es Hesse in der letzten Strophe seines bereits eingangs zitierten, unsäglich schlechten Gedichts "Im Nebel" formuliert hat: "Seltsam, im Nebel zu wandern!/ Leben ist Einsamsein./ Kein Mensch kennt den andern,/Jeder ist allein." So ist das mit dem deutschen Michel im Nebel. Solche Gleichheit der Ungleichheit erschreckt. Dann doch lieber wenigsten den symbolischen Zusammenschluss durch Fremd- und Selbstethnisierung.

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