Allenthalben liest und hört man Zahlen über den Schwund der Bevölkerung in den neuen Bundesländern. Und es wird schlimmer werden. Das ist klar. Aufgrund der Ergebnisse ihrer neuesten Umfrage kommt die Ko-Chefin des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts, Renate Köcher, zu dem düsteren Fazit: »Ostdeutschland glaubt zur Zeit nicht an seine eigene Kraft und Zukunft.« Beinahe drei Viertel aller Ostdeutschen unter dreißig Jahren meinten im Sommer 2001, dass ihnen in den alten Bundesländern bessere Chancen geboten würden. Mobilität wird von den Absolventen der Fachhochschule Erfurt als erstes genannt, wenn sie Kriterien angeben sollen, was für Berufsanfänger bei der erfolgreichen Stellensuche am wichtigsten ist.
Vielleicht erinnern Sie sich. Es gab Zeiten da wurden in der Presse und im Fernsehen täglich die neuesten Zahlen über den Bevölkerungsschwund des gleichen Territoriums genannt. Sie wurden als Beweise gehandelt, wie unterlegen die DDR gegenüber der demokratischen Marktwirtschaft des Westens sei. Der Letzte soll das Licht ausmachen, wurde 1989 gewitzelt. Der Bankrott eines Gesellschaftssystems wurde auch dann noch aus den Zahlen abgeleitet, als in der noch bestehenden DDR 1990 die basisdemokratischen Runden Tische herrschten. Die Öffnung der Mauer und die radikale Umgestaltung der DDR waren für die westdeutsche Politik kein Anlass, die ökonomischen Anreize für alle Umsiedler aus der DDR abzubauen, die in all den Jahren zuvor zur leichteren Integration in die Westgesellschaft eingerichtet worden waren. Weiterhin wurden die Umsiedler als »Flüchtlinge« und Beweise für die dringende Verwandlung der sozialistischen DDR in eine Marktwirtschaft gehandelt.
Heute haben wir die Marktwirtschaft und gerade wegen ihr kommt es zu der Schrumpfung nicht nur der Bevölkerung, sondern aller Institutionen im ehemaligen Territorium der DDR. Doch jetzt werden die Zahlen in den Medien ganz anders gewertet. Da gibt es keinen Bezug zum Gesellschaftssystem, meist nicht einmal einen Bezug zur Politik. Bestenfalls werden sie genutzt, um neue, höhere, schnellere oder andauerndere Subventionen für die neuen Bundesländer zu fordern. Schuld ist nicht das Gesellschaftssystem, sondern die »Strukturschwäche« der neuen Bundesländer.
Die Betroffenen sehen das anders: »59 Prozent der Ostdeutschen unter dreißig Jahren sind überzeugt, dass die Kehrseite eines marktwirtschaftlichen Systems eine Gesellschaft ohne Menschlichkeit ist - eine Weltsicht, die nur 31 Prozent ihrer westdeutschen Altersgenossen teilen«, sagt die Allensbach-Umfrage. Nur noch 21 Prozent aller befragten Ostdeutschen bewerten das »deutsche Wirtschaftssystem« positiv.
Peter Förster aus Leipzig hat einen Jahrgang sächsischer Jugendlicher seit 1987 beinahe jährlich befragt und kommt so zu einer weltweit einmaligen systemübergreifenden Langzeitstudie. Immer wieder hat er Jugendlichen, die langsam Erwachsene wurden und jetzt 27 Jahre alt sind, die gleichen Fragen gestellt und verfolgt, wie sich ihre Antworten änderten.
Zu DDR-Zeiten fragte er sie, ob sie für sich in der DDR eine sichere Zukunft sehen. 1987, im Jahr der ersten - auch zu DDR-Zeiten garantiert anonymen - Befragung bejahten das 97 Prozent der Befragten. Der Prozentsatz sank 1989 auf 94 Prozent. Nach der Vereinigung fragte er, ob die Befragten für sich in den neuen Bundesländern eine sichere Zukunft sehen. Bei der letzten Befragung im Jahr 2000 bejahten diese Frage gerade noch 30 Prozent. Von über 90 auf 30 Prozent, welch ein Verfall des Vertrauens! Wenn diese Zahlen Aussagen über das Gesellschaftssystem wären - und so wurden sie zu DDR-Zeiten im Westen gehandelt -, dann gäbe es kaum eine schärfere Kritik am gegenwärtigen Gesellschaftssystem im Kontrast zur Bewertung der DDR.
Diese unterschiedliche Bewertung von Zahlen erinnert mich an eine seltsame Kapriole in der westdeutschen Linken der achtziger Jahre. Damals machte sich die DKP im Westen mit der Behauptung lächerlich, es gäbe gute und schlechte Atomkraftwerke. Die in der DDR seien gut, weil »in Volkes Hand«. Die im Westen seien schlecht, weil in »der Hand des staatsmonopolistischen Kapitalismus«. Vermutlich erzählte die ostfinanzierte Partei solchen Schwachsinn, weil sie es sich weder mit der westdeutschen Anti-Atomkraft-Bewegung verderben wollte, in der sie ihre potentiellen Anhänger suchte, noch mit ihren Geldgebern in der DDR.
Doch ganz analog scheint es schlechte und gute Abwanderer zu geben je nachdem in welchem Gesellschaftssystem sie auftauchen. Zu DDR-Zeiten bewiesen sie die Unterlegenheit des Sozialismus, heute beweisen sie gar nichts mehr.
Dabei gäbe es durchaus etwas zu lernen aus der anhaltenden Strukturschwäche der neuen Bundesländer. Sie wirft nämlich ein bezeichnendes Licht auf die beständig wiederholte Propaganda, man müsse nur die Löhne senken, die Sozialleistungen einschränken, den Krankenstand senken, die Urlaubszeiten verringern, die Flexibilität und Mobilität der Arbeitenden erhöhen, die Flächentarifverträge abbauen, dann erst würden sich die Investitionen und Arbeitsplätze einstellen. Alle diese Bedingungen gelten schon in den neuen Bundesländern in weit höherem Maße als in den alten. Die als beinahe unausweichlich angekündigten Investitionen und Arbeitsplätze bleiben aber aus. Offensichtlich stimmt die Botschaft nicht, dass solche Selbstaufgabe der Arbeitnehmerinteressen automatisch zu Wirtschaftswachstum und neuen Arbeitsplätzen führt.
Das galt schon für die so genannten Zonenrandgebiete der alten Bundesrepublik im Grenzgebiet zur DDR. Auch dort waren Löhne und Krankenstand niedriger, die Arbeitswilligkeit, Flexibilität und Mobilität höher. Es gab immer neue Strukturprogramme, Vergünstigungen, Förderungen. Alle ohne durchschlagenden Erfolg. Geld verhält sich nicht so, wie es seine politischen Vertreter in der Öffentlichkeit immer behaupten. Geld geht am liebsten zu Geld. Investitionen werden vor allem nicht in den Randbereichen fern von aller Urbanität gemacht, wo die Stückkosten besonders niedrig und die Gewinnchancen pro Stück besonders hoch wären. Erstaunlicherweise werden sie auch weiterhin vor allem dort getätigt, wo man schon eine dichte Infrastruktur von Investitionen mit eingearbeitetem Personal hat, mit guten Lebenschancen für Management und Personal, mit einem anspruchsvollen, zahlungskräftigen Markt im direkten Umfeld und einem Lebensniveau, das eine reizvollere Zukunft verspricht als die naturnahen Randgebiete und deindustrialisierten Brachen der ehemaligen DDR.
Insofern könnten die Schrumpfungszahlen in den neuen Bundesländern doch etwas über das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik lehren: Das, was die Wirtschaftsvertreter der Arbeitgeberverbände ständig über die Funktionsweise dieses Systems verkünden, dass niedrigere Steuern, niedrigere Arbeitskosten, geringere Sozialleistungen und höhere Flexibilität mehr Arbeitsplätze schaffen, stimmt einfach nicht.
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