15-Stunden-Woche

Literatur „Sie nannten es Arbeit“ beschreibt James Suzman Wachstumsideologie von Steinzeit bis Gegenwart – leider fehlt es an Dialektik
Ausgabe 11/2021
Am Rande erwähnt Suzman, dass eine Jäger- und Sammlerkultur nur so lang Bestand haben kann, wie die natürliche Umgebung kontinuierlich mindestens das Notwendige ohne menschliches Zutun zur Verfügung stellt. Trotzdem hält er sie für erfolgreicher
Am Rande erwähnt Suzman, dass eine Jäger- und Sammlerkultur nur so lang Bestand haben kann, wie die natürliche Umgebung kontinuierlich mindestens das Notwendige ohne menschliches Zutun zur Verfügung stellt. Trotzdem hält er sie für erfolgreicher

Foto: Marco Bertorello/AFP/Getty Images

Der Sozialanthropologe James Suzman nimmt den Leser mit auf eine knapp 400 Seiten umspannende Reise durch die Geschichte der Arbeit, von der Jäger- und Sammlergesellschaft bis zur heutigen sogenannten vierten industriellen Revolution. Suzman ist Direktor des anthropologischen Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson College der Cambridge University, mit seinem Buch legt er eine informative und leicht leserliche Übersicht zum Status quo der thematisch relevanten wissenschaftlichen Fachdisziplinen vor – samt Deutung, versteht sich.

Suzmans Hauptaussage: Sesshaftigkeit und Ackerbau, beginnend vor etwa 12.000 Jahren, haben den Menschen eine Menge Nachteile gebracht, nämlich mehr Arbeit, neue Krankheiten, Ungleichheit und so weiter, vor allem aber haben sie die Menschen in einen Strudel des Wachstums und der „zwanghaften“ Arbeitsmoral gesaugt, der unvermeidbar zu den heutigen globalen Problemen führte: Klimaveränderung und drohender Ökokollaps. Der tiefere Grund dafür: Mit der Sesshaftigkeit verbreitete sich auch das in der Volkswirtschaftslehre sogenannte ökonomische Problem, manchmal auch Knappheitsproblem genannt, quasi pandemisch in der Welt. Es besagt im Kern, dass Menschen immer etwas auf der Wunschliste haben, sodass ständig ein Bedarf („Knappheit“) besteht. Das scheint Suzman allein auf Ernährung und Grundversorgung zu beziehen, während etwa John Maynard Keynes und andere Volkswirtschaftler die umfassenden Bedürfnisse von Menschen inkludierten. Echte und vermeintliche, wohlgemerkt.

Nur durch die Erhebung dieses Knappheitsproblems zum Dogma sei es möglich geworden, dass heutige Bürger der Industriestaaten viel mehr arbeiten als Naturvölker, wie beispielsweise die Ju/’Hoansi – bei denen Suzman eine Weile gelebt hat –, solange sie noch ihre „natürliche“ Lebensart als Jäger und Sammler praktizierten: Kaum mehr als 15 Stunden Arbeit wöchentlich haben diese aufgewendet, um sich und eine gleich große Anzahl Unproduktiver „zu ernähren“.

Am Rande erwähnt Suzman, dass eine Jäger- und Sammlerkultur nur so lang Bestand haben kann, wie die natürliche Umgebung kontinuierlich mindestens das Notwendige ohne menschliches Zutun zur Verfügung stellt. Trotzdem hält er diese Lebensweise evolutionsgeschichtlich für erfolgreicher als die Sesshaftigkeit. Schließlich habe der Homo sapiens mit ihr rund 300.000 Jahre überlebt, während die Sesshaftigkeit gerade mal läppische 12.000 Jahre auf dem Buckel hat. Hier verwechselt der Autor schlicht Quantität mit Qualität.

Ein anderer, leicht zu widerlegender Gedankengang: Suzman setzt implizit die Jagd- und Sammelaktivitäten der Ju/’Hoansi – 15 Stunden pro Woche – mit unserer Wochenarbeitszeit gleich. Ein quantitatives Messen, das ohne Blick auf die qualitativen Details kaum Sinn macht; aber auch in der Quantität trägt der Vergleich nicht so, wie Suzman suggeriert: Im Jahr 2019 gab ein durchschnittlicher Haushalt in Deutschland gerade einmal knapp 40 Prozent des Nettoeinkommens für Wohnen, Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren aus. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Männern lag bei 38,6 Stunden, Frauen arbeiteten im Durchschnitt 30,5 Stunden. Das wären also in der Analogie Suzmans weniger als 15 Wochenstunden, „um sich zu ernähren“. Eigentor Suzman. Weil er nicht genau hinschaut, entschlüpfen ihm auch so unhaltbare Behauptungen wie diese: „Die meisten von uns arbeiten noch genauso fleißig wie unsere Großeltern und Urgroßeltern.“ Fakt dagegen ist: Als Erfolg der Arbeiterbewegung im Deutschen Reich wurde 1900 der Zehn-Stunden-Arbeitstag (in einer Sechs-Tage-Woche) zum Gesetz, bis dahin waren 14 Stunden am Tag keine Ausnahme.

Insgesamt scheint Suzman jegliche dialektische Weltsicht fremd zu sein. Die Menschheitsgeschichte ist noch nicht vorbei, aber reich an überstandenen Krisen. Ob man nun eher zu Hegel oder zu Marx neigt: Unbestreitbar ist nun mal – und James Suzman legt das implizit in seinen Überblicken zu den einzelnen Epochen auch dar –, dass Fortschritt Probleme löst, aber damit zugleich nolens volens neue schafft, die dann wieder zu lösen sind; aber bei allem Hin und Her standen in der Synthese dann bisher doch mehr Wohlstand, mehr Freiheit und mehr Potenzial für Entwicklung.

Der Grund, warum die meisten von uns heute nicht weniger arbeiten, obwohl sie im Sinne der Grundversorgung mehr haben, als sie brauchen, ist natürlich nicht nur Vorsorge oder die Vision, eines Tages das „Knappheitsproblem“ hinter sich lassen zu können. Es ist Befriedigung von Bedürfnissen – von echten natürlich, aber auch von vermeintlichen, die sich in Wahrheit aus dem Angebot speisen und irgendeine Art von Glücksverspechen suggerieren. Was der Mensch „braucht“, ist eine ewige Frage der Philosophie, der Religionen und heutzutage auch der Psychologie. Das Komplizierte daran ist, dass auch Bedürfnisse darunter sind, die man für Geld nicht befriedigen kann, es aber allerlei Ersatz dafür zu kaufen gibt, der einem genau das vorgaukelt.

Dass die Ju/’Hoansi oder andere sogenannte Naturvölker keine „vermeintlichen“ Bedürfnisse hätten, gehört zu den Ammenmärchen der Ethnologen, die sich davon unbenommen allesamt bei ihren Aufenthalten innerhalb solcher Völker über deren unbefangenes und ausdauerndes Schnorren mokierten – und auch über deren eigenwilliges Verständnis von Eigentum, als sie erlebten, wie ihre persönlichen Kleidungsstücke ohne Absprache von Einheimischen getragen wurden.

Zu Zeiten von Jäger- und Sammlerkulturen, als noch Naturalwährungen gebräuchlich waren, mag die Frage gewesen sein, ob man diese smaragdschillernde Muschelkette braucht. Und heute diese Perlenkette, das Smartphone? Der Grund, warum so viele Ja sagen, dürfte damals ungefähr der gleiche gewesen sein wie heute.

Info

Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit James Suzman Karl Heinz Siber (Übers.), C. H. Beck 2021, 398 S., 26,95 €

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