Gerade erst hat uns die Coronapandemie gelehrt, dass sich Wissenschaftler mit herausragender Expertise nicht ohne Weiteres auf eine scheinbar so simple Frage wie die nach dem Nutzen von Gesichtsmasken einigen können. Und da will uns einer erklären, Wie die Welt wirklich funktioniert, so der Titel von Vaclav Smils neuem Buch.
Der renommierte Experte für interdisziplinäre Fragen zu den Themen Energie, Umwelt, Nahrung, Bevölkerung, Wirtschaft und Geschichte versucht es, indem er den Blick auf die großen Zusammenhänge richtet – nicht aus philosophischer, sondern aus pragmatischer Sicht. Smil erklärt uns, wovon die Welternährung abhängt, woraus und womit wir bauen, inwiefern die Globalisierung nützlich ist und auch was die echten Risiken der Menschheit sind.
Der Untertitel des Buches deutet an, worum sich alles dreht: Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit. Es sind die fossilen Rohstoffe Erdöl, Kohle und Gas, ihre chemischen Veredelungen sowie die daraus entwickelten Produkte und Technologien. Smil betrachtet die Welt als Funktion von Energie. Gemeinhin versteht man darunter die Fähigkeit, Arbeit zu leisten, und zwar Arbeit als „genereller physischer Akt der Hervorbringung einer Veränderung in der Konfiguration eines Systems entgegen einer Kraft, welche dieser Veränderung widerstrebt“.
Gemeint ist beispielsweise die Arbeit, die ein Fußballer verrichtet, wenn er den Ball tritt, ebenso die des Automotors, des Raketenantriebs; weniger offensichtlich ist die der Glühlampe, die Licht aussendet, oder des Chips im Smartphone, der Nullen und Einsen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit so verarbeitet, dass sie zu optischen beziehungsweise akustischen Signalen „verarbeitet“ werden können: Energie gibt es demnach in sehr verschiedenen Formen: Gravitationsenergie, kinetische Energie, Wärmeenergie, elastische Energie, elektrische Energie, chemische Energie, Strahlungsenergie, Kernenergie und Massenenergie.
Mit diesem umfassenden Begriff von Energie schaut Smil auf die Menschheitsgeschichte, von den Anfängen der Jäger- und Sammlerkulturen über die Agrargesellschaften bis hin zu heutigen, hochtechnisierten Gesellschaften. Fortschritt war aus dieser Sicht immer eine Frage des Energieeinsatzes zur Nahrungsgewinnung, zur Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände und zur Verringerung von Lebensrisiken. Das begann mit der menschlichen Arbeitskraft und einfachen Geräten, setzte sich fort mit der Nutzung des Feuers (fossile Energie), der Nutzung tierischer Arbeitskraft, der Erfindung von Rad, Segel, Fahrzeugen und gelangte schließlich in der Neuzeit zur Nutzung der uns bekannten Technologien. In physische Arbeit umgerechnet, so Smil, ist es heute so, als würde jeder erwachsene Mensch im globalen Schnitt über 60 Personen verfügen, die rund um die Uhr für ihn arbeiten. De facto ist diese physische Arbeit umfassend von fossilen Energieträgern abhängig, und zwar viel umfassender als den meisten Menschen bewusst ist. Smil zeigt das sehr überzeugend an der Welternährungssituation. Angefangen von den heutigen Düngemitteln – mit deren Hilfe der Welthunger trotz rasanten Bevölkerungswachstums verringert wurde – über die verschiedenen Maschinen und Fahrzeuge zur Bodenbearbeitung und Veredelung bis hin zur Distribution ginge ohne fossile Grundstoffe gar nichts mehr. Sie sind nicht nur Treibstoff, sondern stecken in so ziemlich jedem Gerät, klein wie groß, oder werden zu dessen Herstellung gebraucht.
Das gilt in ähnlicher Weise für so ziemlich alle Wirtschaftszweige, ob Elektronik oder Bauindustrie, ob Mikro- oder Makrotechnik. Eine vollständige Abkehr innerhalb weniger Jahrzehnte oder gar Jahre hält Smil daher für illusorisch. Ohne Kernkraft sei das nicht einmal bei der Elektrizitätsversorgung möglich, zumal ungefähr drei Viertel der Weltbevölkerung, was den Wohlstand der westlichen Länder angeht, erheblichen Aufholbedarf haben.
Im Hinblick auf das Klima bedeutet das: Es ist ratsam, in der Klimapolitik die CO2-Reduzierung durch eine Risikofolgenabschätzung des Klimawandels und entsprechende Maßnahmenplanung zu ergänzen. Denn diese Risiken, so Smil, seien zwar eine Herausforderung, aber berechen- und beherrschbar. Andere sind es dagegen derzeit nicht, etwa die nächste Pandemie oder ein großer koronarer Massenauswurf der Sonne, der beim momentan dürftigen Stand der Schutzmaßnahmen weltweit unverzichtbare elektrische und elektronische Geräte und Anlagen für Stunden oder Tage schachmatt setzen würde.
Überhaupt ist faktenbasierte Risikoabschätzung ein zentrales Thema Smils, das sich durch das ganze Buch zieht: „Ein risikofreies Dasein anzustreben, ist etwas ziemlich Illusionäres; dagegen ist und bleibt das Streben nach einer Minimierung gefährlicher Risiken eine der stärksten Triebkräfte des Fortschritts.“
Wie die Welt wirklich funktioniert. Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit Vaclav Smil Karl-Heinz Siber (Übers.), C.H. Beck 2023, 392 S., 28 €
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