Globalisierung: Wie der Norden vom Süden lernen kann

Meinung Kompass, Kartoffel, Quinoa: Der Norden hat vergessen, wie viel er in der Vergangenheit von anderen übernommen hat. Er sollte sich darauf besinnen – diesmal aber auf Augenhöhe
Ausgabe 18/2023
Den gegenseitigen Austausch sprießen lassen
Den gegenseitigen Austausch sprießen lassen

Illustration: Niklas Wesner für der Freitag

Wo beginnt der „Süden“? Für manche wohl am Brenner. Schon in Italien, denken Sie Sketiker, funktioniere so vieles nicht! Was können da Afrika, die Amerikas, Indien bieten? Der Weltkongress der Wissenschaftsjournalisten gab jüngst schon im Tagungsort ein Beispiel: Medellín, Kolumbien – Botanischer Garten. Wussten Sie, dass solche Gärten keine britische Idee sind? Sie waren die Apotheke der Azteken. Die Europäer haben nur abgekupfert. Und nach dem Kongress ist der Kopf voll mit Prinzipien, Fragen, Ideen, die den Norden vom Süden lernen machen könnten.

Nestwärme zum Beispiel. Selbst als Fremder ist man im Süden willkommen. Familiensorge statt sozialer Atomisierung. Und Inklusion: Statt „Multikulti“ haben etwa Bolivien und Ecuador etwas Moderneres: pluri-national. Gemeinschaft aus zig Ethnien, Kulturen, Stämmen, aus Kolonisatoren und anderen Einwanderern. Der ausgrenzende Norden kann hier lernen. Oder Gemeinwohlarbeit: In Kolumbiens Outback trifft man sonntags Trupps von Campesinos, die Straßen reparieren, scherzend und singend.

Wie funktionieren diese fröhlichen Bürgerinitiativen, die teils Radios betreiben? Man komme und studiere. Oder Recycling: Im Süden wird alles repariert, enorm kreativ. Kaputte Gummischläuche erwartet ein Dutzend neue Leben. Wolfgang M. Heckl schrieb 2013 den Bestseller Die Kultur der Reparatur. Hier gibt es Stoff für Band zwei bis fünf, inklusive philosophische Erdung: „Buen Vivir“ ist die Kosmovision der Anden, also „gut leben“, Mensch, Natur, Universum sind eins. „Pacha“, das Große Ganze, ist ein Organismus, wie „Gaia“ bei den Griechen. Was lehrte Aristoteles? „Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile.“ Im Süden finden wir auch uns selbst.

Voll Respekt vor der Natur und ihrer Schöpferkraft entlockten andine Bauern der Bergwelt Hunderte Kartoffelsorten. Die retteten dereinst Europa aus Hungersnöten. Quinoa, „Reis der Anden“, gedeiht auf kargen Böden. Er könnte den Klimawandel abpuffern und einen Großteil der Welt ernähren, neoökologisch-nachhaltig.

Keine Mauer stoppt Wissen

Die botanischen Gärten der Azteken, der Kompass aus China, arabische Zahlen: Wissen ist Flow, sagt der Wissenschaftshistoriker James Poskett. Keine Mauer stoppt es. Zu unser aller Segen! Starthilfen aus den südlichen Hochkulturen erweckten Europa aus dem Mittelalter. Wir brauchen Updates, nicht nur für Computer.

Augenblick, wenden die Skeptiker ein: Naturglaube, das Zyklische ist nicht unser, nicht mehr. Abendland heißt Fortschreiten, Wachsen, Linearität, Objektivierung, Quantifizierung. Doch ist das wirklich unvereinbar? Das Kreis- und Spiral-Element ist Teil der Existenz, Naturgesetz. Von den Spiralnebeln im Kosmos bis zur spiraligen DNA – in jeder Ihrer 75 Billionen Zellen. In ihren Triumphen ist die Nord-Forschung vom Süd-Geist untrennbar, wie die Quantenphysik verrät. Beispiel: das legendäre Doppelspaltexperiment. Ein Elektron weiß im Voraus, wie das andere sich verhält, in überlichtschneller Kommunikation, wider alle Gesetze. Albert Einstein sprach von „spukhafter Fernwirkung“. Zeigt sich hier nicht die Ur-Formel? Weiß oder Schwarz, Ja oder Nein, Welle oder Teilchen: Polarität gebärt kreative Spannung, dreht unsere Welt weiter: Innovation.

Doch apropos Spuk: Der Stachel der Kolonisierung sitzt im Süden tief. Zugleich hat diese auch bewirkt, dass die Nord-Süd-Achse Werte teilt. Wobei: „Wir sind die Mehrheit!“, wie Ochieng Ogodo aus Kenia sagt. China, in Afrika immer präsenter, hat das begriffen – und wir?

Eine UNESCO-Vision ist „Open Science“. Von allen, für alle, Citizen Science oder Bürgerwissenschaft, global auf Augenhöhe. Das unterstreicht Antonio Copete, Dekan der Eafit-Uni in Medellín. Und Yesenia Olaya, Afro-Kolumbianerin, Vize im Wissenschaftsressort zu Bogota: „Ist jede und jeder nicht primär Subjekt von Wissen?“

Gute Reise also über den Brenner – und weiter nach Süden. Bleiben Sie skeptisch! Zweifel ist Mutter des Wissens. Wie es der Astrophysiker Harald Lesch ausdrückt: Wir irren uns empor.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden