Da kannst du nicht mitreden

Eingeschlossen im Kessel Am 2. Februar 1943 endete der Widerstand der deutschen Armee in Stalingrad und leitete die Kriegswende an der Ostfront ein. Eine Erinnerung und eine Reise

"Zeig mal, wo warst du mit deinem Panzer?" Die Ukraine lag auseinandergefaltet auf dem Wohnzimmertisch des Vaters. Eine Umweltinitiative hatte uns Gorleben-Aktivisten per Internet aufgespürt und zu einem Gegenbesuch eingeladen. So war ich mit meinen Leuten zehn Tage in der Ukraine unterwegs gewesen. Mit dem Finger auf der Karte fuhr ich die Strecke noch einmal nach. Natürlich mussten wir als AKW-Gegner von Kiew aus auch einen Abstecher nach Tschernobyl in die tote Zone machen. Dann ging es mit dem Nachtzug aus der Hauptstadt nach Artemovsk in der Ostukraine, am Rande des Donezker Gebiets. Rauchende Schlote zogen an uns vorüber und bezeugten, hier wird Kohle gefördert, Stahl produziert. Das ist mittlerweile acht Jahre her.

In einem Salzbergwerk, das die Förderung noch nicht einmal eingestellt hatte und zugleich als Sanatorium genutzt wurde, sollte nun schwach- und mittelaktiver Atommüll eingelagert werden. Wir diskutierten als "Experten" über Salz als fragliches Lagermedium für strahlende Abfälle, gaben Zeitungsinterviews und wurden vom Bürgermeister hochoffiziell empfangen. Artemovsk: Hier wird auch der berühmte Krimsekt gekeltert, bei der obligatorischen Degustation betonte der Direktor voller Stolz "à la méthode champenoise". Danach die brutale Ernüchterung, eine Gedenktafel, die darauf verwies, in einem Stollen der Kellerei hatten die Nazis ukrainische Widerstandskämpfer bei lebendigem Leib im Kalkgestein eingemauert. Die Geschichte des Ostfeldzuges holte mich ein.

"Na da, zwischen Melitopol und Maryupil, am Assowschen Meer, da war ich, aber es hieß irgendwie anders". Etwas fahrig, so als wollte er die unangenehme Erinnerung vertreiben, wischte Vater über die Karte mit den ukrainischen Namen, die nicht ganz zu den ihm geläufigen russischen Bezeichnungen passten. "Wir sind von der Bevölkerung freundlich begrüßt worden, als Befreier von Stalin". - "Ach so, deshalb habt ihr die Befreiten dann auch gleich danach eingemauert?" - "Du hast ja keine Ahnung", fuhr er mich an.

Warum war so wenig in der Familie über die Kriegszeit gesprochen worden, vor allem über die Kriegserfahrungen meines Vaters? Der Vater eines Mörders - eine Schulgeschichte von Alfred Andersch - hatte ich in den achtziger Jahren gelesen. Mein Vater war kein Massenmörder. Er war auch kein glühender Parteigenosse, kein hoher Beamter mit Auszeichnungen, wie der Vater meiner Kollegin Irene Kroll, die sich auf den Weg nach Belaja Zerkov machte und Die Spur ihres Vaters aufnahm. Jener war Gebietskommissar südlich von Kiew unter Erich Koch gewesen, dessen brutale Besatzungspolitik Hundertausende Opfer gefordert hatte. Wenn überhaupt, gab es bei uns nur episodische Bruchstücke bei Skat und Schnaps auf Familiengeburtstagen. Ich war unentschlossen zu fragen und fühlte mich befangen. Über den Zweiten Weltkrieg und die Nazizeit zu sprechen, blieb eigenartig tabu.

Soviel wusste ich schließlich: Dass sein Panzer einen Treffer bekam, dass er mit Granatsplittern in der Lunge fast verblutet wäre, wenn da nicht die ukrainische Krankenschwester gewesen wäre, die ihm im Lazarett heimlich Milch eingeflößt hatte. Das war im August 1942, kurz vor seinem 20. Geburtstag. "Unser Panzer III war den russischen T 34 sowieso unterlegen. Die Panzerung war unzureichend, die Rotarmisten schossen einfach durch uns durch, und so haben wir auch einen Treffer eingefangen."

Die Kriegsfolgen waren unübersehbar, die große Narbe auf dem Rücken, haarscharf neben der Wirbelsäule. Anfang der fünfziger Jahre begannen die Granatsplitter in der Lunge zu wandern, er spuckte Blut, und sein Leben hing Jahre nach der Verwundung noch einmal am seidenen Faden. Die herausoperierten Granatsplitter verwahrte er in einem Glasröhrchen, kurioserweise zusammen mit seinen Gallensteinen.


In Taganrog am Assowschen Meer ist es heiß. 1.000 Kilometer der Trasse von Moskau nach Krasnodar, Schotter und Schlaglöcher stecken schon in meinem Rücken. Im Sommer 2007 bin ich auf dem Weg in den Kaukasus, und bevor es von Rostov am Don weitergehen soll, will ich in diesem Badeort die Seele baumeln lassen. Der Abstecher mobilisiert blitzartig die Erinnerungen an die Anti-AKW-Mission im Jahre 1999. Nach Donezk 120 Kilometer, nach Maryupil 40, verkünden die Wegweiser. Plötzlich bin ich unbeabsichtigt ein zweites Mal auf den Kriegspfaden des Vaters. An jeder Biegung erinnern Tafeln und Monumente an die Abwehrschlacht der Roten Armee. Schamgefühle über die Nazi-Gräueltaten steigen in mir auf. Das Gespräch über Stalingrad, das acht Jahre zuvor kläglich abbrach, kommt mir in den Sinn.

"Stalingrad, da kannst du nicht mitreden", höre ich Vater sagen. Was bedeutet das für ihn? Ist es der Ort, ein Marschbefehl, geht es um die Verwundung und um Lebensgefahr? Für mich verbindet sich mit Stalingrad ausschließlich das angelesene Wissen über den Sieg der Roten Armee, über den Wendepunkt des Krieges an der Ostfront, letztlich über den Zusammenbruch des Hitlerfaschismus, ein Nicht-Ort. Ich will, das steht jetzt fest, unbedingt nach Wolgograd.

Im August 1942 bombardierte die Luftwaffe Stalingrad, was Zehntausenden von Zivilisten das Leben kostete; damit begann der Angriff der 6. Armee. Generaloberst Friedrich Paulus befehligte bis zu 250.000 Soldaten aus der 6. und Teilen der 4. Armee, aus rumänischen und italienischen Divisionen. Mein Vater erinnert, auch ein kroatisches Kontingent sei in der Ukraine im Einsatz gewesen. Im Kessel von Stalingrad wurde um jede Häuserzeile erbittert gekämpft. Unvorstellbar hoch die Zahl der Toten - nach Schätzungen verloren 600.000 bis eine Million Soldaten und Zivilisten ihr Leben.


An diesem Tag flanieren viele junge Leute zur Wolga, ein Bier in der Hand. Wolgograd im Sommer. Vor der ewigen Flamme lassen sich Hochzeitspaare fotografieren. Im Kaufhaus, schräg gegenüber des Hotels Wolgograd, kämpfe ich mich durch Schuhregale und Fahrräder, Elektronikzubehör und Computer. Verdeckt vom Kommerz, der Eingang zur Geschichte - hier im Keller unterzeichnete am 31. Januar 1943 Generalfeldmarschall Paulus die Kapitulation. Hitler hatte ihn gemäß preußischer Tradition mit der Beförderung indirekt zum Suizid aufgefordert. Paulus aber ging mit seinem Stab und rund 30 weiteren Generälen in die Gefangenschaft. Die letzten Kampfhandlungen wurden zwei Tage später im Nordkessel eingestellt.

Deutsche Munitionskisten und Fotos der zerbombten Stadt, Zeitungsartikel und Poster. Ich trage deutlich sichtbar den Fotografen-Ausweis, werde trotzdem misstrauisch beobachtet, als ich mit der Kamera Spuren sichere. Gemessen an der Bedeutung ein bescheidener Ort. Die Vitrine mit dem roten Becher lässt mich nicht los. "Walter" steht drauf - wie der Bruder meiner Mutter, er war im Osten "verschollen", wie das hieß. Die Gänsehaut überkommt mich im monumentalen "Saal des Soldatenruhmes" mit den vielen eingravierten Namen der Toten der Roten Armee. Die beiden jungen Wachsoldaten auf dem Mamajew-Hügel sind keine 20 Jahre alt, so wie Vater, als er in den Krieg zog. Draußen in der flirrenden Hitze verfliegt die Anspannung. "Was geht denn am besten?", frage ich Olja, die Verkäuferin am Andenkenstand. "Stalin", lacht sie mich an. Ich entscheide mich für die Streichholzschachteln mit seinem Konterfei. "Aber das ist doch Geschichte", wendet sie zaghaft ein. "Ja, gerade deshalb", antworte ich.

"Ich hab dir was von der Reise mitgebracht". Ich zeige Vater die Streichholzschachtel. "Schön kitschig", meint er, aber wir nehmen die Fahrt mit dem Finger auf der Landkarte und das Gespräch noch einmal auf. Er erzählt. Seine Jugend verbrachte er in Stettin, wuchs bei der Großmutter auf, zog als "Pimpf" mit der Hitlerjugend ins Camp, schwärmte für Rommel. "Wir haben im Kino die Wochenschauen gesehen, ich fand damals, der war ein toller Draufgänger, da wollte ich hin." Gleich nach dem Notabitur rollte der Panzerzug nach Norditalien, wurde aber zur Unterstützung der 6. Armee in die Ukraine abkommandiert.

Rostov am Don, das ist ihm auch ein Begriff. Ich schaue ihn an: Wäre er unverwundet in Stalingrad angekommen, gäbe es mich nicht oder ich wäre ein anderer. Die Verwundung hat meinen Vater für sein Leben gezeichnet, ihm aber wahrscheinlich das Leben gerettet. Kroatische Soldaten entdeckten, dass in dem Blut verschmierten Körper noch Leben war. Der da auf dem Schlachtfeld bewusstlos lag, war mein Vater. Lazarett in Passau, in Stettin, in Greifswald. Halbseitig gelähmt, schneeweißes Haar, lernte er langsam wieder laufen und wurde 1944 für den Endkampf k.v.H. eingestuft, kriegstauglich für die Heimatfront.

In Erfurt bestieg er in der Genesungskompanie wieder einen Panzer. "Der Fahrer war unterschenkelamputiert, der Ladeschütze gerade 16 Jahre jung. Wir sind raus aus der Kaserne, haben die Panzerkolonne an der Straße stehen lassen und sind rein in ein Wäldchen. In sicherer Entfernung von den Panzern haben wir uns über die leckere eiserne Ration hergemacht", erzählt er nun. Gleich darauf schossen die Amerikaner den Panzer schrottreif. Dann ging alles schnell. Er fälschte Papiere und wies sich in ein Lazarett ein, das es gar nicht gab, in Dannenberg. Schnappte sich ein Motorrad und kam durch bis zu den Dömitzer Elbbrücken. Versteckte sich unter Stroh und im Schweinekoben. "Ich habe mir selbst einen Marschbefehl geschrieben."

In Winterspelt spielt Alfred Andersch die Möglichkeit der Desertion durch - Andersch selbst war 1944 desertiert und wird für diesen Schritt gerühmt. Meinem Vater sollte es ganz anders gehen. Als er nach Kriegsende als Verwaltungsfachangestellter angelernt wurde, war er umgeben von lauter ehemaligen Berufssoldaten. "Viele waren stramme Nazis, die alle in den Öffentlichen Dienst übernommen wurden. Von meinem letzten Marschbefehl hätten die Kollegen nichts erfahren dürfen. - Was fragste eigentlich so viel?!"

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