Ende Juli startete eine zehnköpfige Gruppe von AtomkraftgegnerInnen aus dem Wendland zu einer Infotour in die Ukraine. Auf dem Programm standen eine Fahrt in die Sperrzone von Tschernobyl, zahlreiche Pressegespräche und ein umfangreiches Besichtigungsprogramm im Raum Artemovsk. Dort wird ein Salzbergwerk als Endlagerstätte für schwach- und mittelaktive Abfälle favorisiert.
Gleich drei Meldungen in der englischsprachigen Kyiv Post vom 27. Juli illustrieren das Desaster der gegenwärtigen ukrainischen Energiepolitik. Als diplomatischen Erfolg feiert das Kiewer Blatt die Weigerung Polens, die russische Gazprom eine neue Gas-Pipeline durch Polen bauen zu lassen - jetzt muss sie durch die Ukraine geführt werden. Die zweite Meldung: Der ehemalige ukrainische Ministerpräsident Pavlo Lazarenko sitzt in den USA in Untersuchungshaft. In der Schweiz wurde er in Abwesenheit wegen Geldwäsche verurteilt, die Staatsanwaltschaft konfiszierte seine Konten mit 6,6 Millionen Dollar. Der dritte Artikel befasst sich ausführlich mit einem Untersuchungsprogramm in der 30-Kilometer-Sperrzone rund um Tschernobyl. Fleisch wie Milch der Kühe, die gehalten werden, sind noch immer stark kontaminiert ist. Der Supergau von 1986 ist hier in erster Linie forschungspolitisch von Interesse. Aber wer die Erdhügel gesehen hat, unter denen ganze Dörfer begraben sind, oder wer den Friedhof hochverstrahlter Militärfahrzeuge, Feuerwehren und Helikopter zu Gesicht bekommen hat, die in der Sperrzone in Reih und Glied als Atomschrott für die Ewigkeit dauergeparkt sind, bekommt eine leise Ahnung des entsetzlichen Leids, dem die Bevölkerung in den Dörfern und der Geisterstadt Pripjet damals ausgesetzt war.
Angezapfte Pipelines
Die Ukraine geht mit Energie extrem verschwenderisch um. 75 Milliarden Kubikmeter Gas werden im Jahr verbraucht - damit steht sie weltweit auf dem siebten Platz, auf den vorderen Stellen nur G-8-Staaten. Mehr als Dreiviertel des Bedarfs muss aus Russland importiert werden. Kiew steht deswegen mit 1,4 Milliarden Dollar bei Moskau in der Kreide. Der russische Gazprom-Chef Rem Wjachirew hat schon des Öfteren gedroht, den Gashahn zuzudrehen. Doch das ist nicht leicht, denn die Ukrainer zweigen sich das Gas einfach von den großen Pipelines ab, die nach Westeuropa verlaufen. Auch die Öl-Pipelines, die durch das Land laufen, sind vor ihnen nicht sicher: Bei einem Diebstahlversuch aus einer Erdölleitung im Norden der Ukraine sind Anfang August etwa 500.000 Liter Öl ausgelaufen. Die Dorfbewohner rissen ein fast acht Zentimeter großes Loch in die Pipeline - es wurden zwei Hektar Land verseucht. Wegen des Öl- und Gasklaus ist es auch kein Wunder, wenn Energie als Kostenfaktor bislang so gut wie gar nicht ins Gewicht fiel. Im Vergleich zu Westeuropa ist der Energieeinsatz bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt viermal höher.
Die Oligarchie
Die Ineffizienz der Industrie wiederum hat mit der Energieverschwendung, hohen Leitungsverlusten sowie der Ausbeutung unrentabler Kohlegruben zu tun. Aber auch die Macht der alten Nomenklatura spielt eine Rolle. Die zehn Oligarchen, die das Land beherrschen, sind oder waren meist Chefs der staatlichen Schlüsselindustrien, auch Pavlo Lazarenko. Unter Leonid Kutschma, mit dem er zudem verschwägert ist, war Lazarenko bis 1997 zuerst Energie- und dann Premierminister. Als Direktor der staatlichen Energiebehörde Jedinyje Energetitscheskije Sistemy soll er - so das Gerücht - 907 Millionen Dollar in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, knapp ein Drittel des ukrainischen Staatshaushalts. Während seiner Amtszeit als Energieminister hat er offenbar viel Geld mit dem Kauf und Verkauf von Energiekontrakten gemacht, die Gewinne aber meistens einbehalten. Dem Energiesektor der Ukraine half das alles nichts. Aus Geldmangel verschlechterte sich die Situation in Tschernobyl weiter, und die Bergleute in den Kohleminen bekamen monatelang kein Geld.
Die Atomreaktoren K2/R4 in der Ukraine
Blöcke Chmelnitzkoje 2 und Rowno 4 (K2/R4) sind zwei teilweise errichtete Atomkraftwerke des russischen Bautyps WWER-1000/320 in der Ukraine (gleicher Bautyp wie in Stendal). Sie sollen mit westlicher Finanzierung und Technologie fertiggestellt werden. Als Hauptauftragnehmer sind Siemens und die französische Firma Framatome vorgesehen. K2/R4 hat ein geschätztes Projektvolumen von 1,72 Milliarden US-Dollar.
Die Fertigstellung von K2/R4 wird als Notwendigkeit dargestellt, um den letzten funktionierenden Block des AKW Tschernobyl stillzulegen. In einem "Memorandum of Understanding" (MoU) zwischen den G-7-Staaten und der Ukraine erklärten sich die G-7-Länder bereit, einen Ausgleich für das Energiedefizit zu finanzieren, welches die Abschaltung von Tschernobyl hinterlassen würde. Die Fertigstellung der Reaktoren wurde dabei nur als eine von mehreren Alternativen genannt. Wichtig für die endgültige Auswahl sollte sein, daß das Projekt die kostengünstigste Variante darstellt. Während der ukrainische Präsident Kutschma ursprünglich ein Gaskraftwerk favorisierte, drängten die G-7-Staaten auf die nukleare Variante, die infolgedessen am intensivsten vorbereitet wurde.
Die Reaktoren von K2/R4 sind selbst mit den geplanten Verbesserungen weit davon entfernt, Sicherheitsstandards westlicher Staaten zu erfüllen. Sie könnten in keinem westlichen Land eine Zulassung erhalten. Nicht umsonst wurden Pläne zur Vollendung der baugleichen Reaktoren in Stendal von der damaligen Bundesregierung verworfen, da die Berücksichtigung adäquater Sicherheitsstandards zu teuer gewesen wäre, um die Fertigstellung wirtschaftlich rechtfertigen zu können. Bei K2/R4 verzichtet man offensichtlich aus Kostengründen auf die Sicherheit. Die große Mehrheit der Bevölkerung in der Region Rivne/Khmelnitsky lehnt K2/R4 ab. Eine repräsentative Umfrage zeigte, daß lediglich 9 % der Fertigstellung von neuen Einheiten in den AKW Rowno und Chmelnitzkoje zustimmen. Die Behörden versuchen jedoch, eine öffentliche Debatte über K2/R4 durch Einschüchterung der Projektgegner zu verhindern.
Aus einer Stellungnahme von WEED vom 12. 12. 99
Die Atomkraft
Um energetisch von Russland unabhängiger zu werden, setzt Präsident Kutschma mit breiter Unterstützung durch das Parlament auf die Atomkraft. Der Anteil von Atomstrom an der Gesamtenergieversorgung betrug im vergangenen Jahr 42,1 Prozent. Die fünf Atomkraftwerke mit 14 Blöcken schlagen die anderen Energieträger haushoch.
Mit Mitteln der Europäischen Bank für Wiederaufbau (EBRD) will die Ukraine die Blöcke Chmelnitzkoje 2 und Rowno 4 (K2/R4) fertig stellen - als Kompensation für die Stilllegung der Reaktoren in Tschernobyl. Der letzte soll dort am 15. Dezember abgeschaltet werden. Für die erneute Ummantelung des brüchigen Sarkophags fehlen immer noch 62 Millionen Dollar, 760 Millionen Dollar sind seitens der G-8 Staaten für den Einschluss des Katastrophenreaktors avisiert. Experten rechnen allerdings damit, dass allein für die nächsten 15 Jahre die doppelte Summe nötig wird, um den Sarkophag zu sichern.
Die Bundesregierung wird sich an der Finanzierung der Reaktoren K2/R4 nicht beteiligen. Leonid Kutschma wurde bei seinem Deutschlandbesuch im Juli in Leipzig bedeutet, dass Rot-Grün jedoch bereit ist, den deutschen Beitrag im Rahmen des 1995 unterzeichneten "Memorandums of Understanding" zu zahlen: allerdings nur für die Förderung konventioneller Energien oder für die Ertüchtigung der Leitungsnetze. Damit ist die Fertigstellung der zwei neuen Blöcke jedoch nicht verhindert: Einerseits wollen die anderen G-8-Staaten das auf 1,4 Milliarden Dollar veranschlagte Projekt unterstützen, vor allem Siemens und Framatome hoffen auf die milliardenschweren Kredite an die Ukraine, andererseits hat aber auch Russland Interesse an dem Projekt. Moskau unterbreitete kürzlich das Angebot, die beiden Blöcke für nur 800 Millionen Dollar zu Ende zu bauen.
Die Endlagerung
Ein Land, in dem es noch nicht einmal Gaszähler gibt, ist anfällig für "Billiglösungen": Der Geologe Dimitrij Krushchev möchte in einem ausgedienten Salzbergwerk im Gebiet Artemovsk im südöstlichen Teil der Ukraine ein Endlager für nicht-wärmeentwickelnde Abfälle einrichten. Dass in diesem Gebiet Speisesalz seit dem Mittelalter abgebaut wird und die erste Schachtanlage bereits vor 130 Jahren gebaut wurde, dass das Bergwerk nur 280 Meter unter der Erdoberfläche liegt und Wasserwegsamkeiten bestehen, spielt in den Überlegungen Krushchevs keine Rolle.
In den benachbarten Orten, Soledar und Artemovsk, ist die Position der kommunalen Vertreter einhellig. "Wenn hier ein Atommülllager eingerichtet wird, ist die Stadt tot", sagt Walentina Laschko, die Bürgermeisterin in Soledar. Sie fürchtet um den guten Ruf des Salzes. Wenn Atommüll eingelagert werde, lasse sich das Speisesalz nicht mehr verkaufen, das Sanatorium am Ort könnte man dann ebenfalls gleich schließen. Ähnliche Sorgen plagen Artemovsk: Dort wird der weltberühmte Krimsekt in einem ehemaligen Kreide-Bergwerk unter Tage gebraut.
Doch die einhellige Ablehnung in der Region kann die Endlagerpläne nicht kippen. Walentina Laschko erklärt: "Die Verfassung und die Gesetze funktionieren noch nicht so, und schließlich kann man viel Geld verdienen", mit westeuropäischem Atommüll.
Die deutsche Delegation
Was gibt eine deutsche Delegation, vornehmlich Mitglieder einer Nicht-Regierungs-Organisation, auf einer abschließenden Pressekonferenz in der deutschen Botschaft zu Protokoll? Sie gibt sich diplomatisch: Dass die Bundesregierung den Atomausstieg beschlossen hat, dass es Aufgabe der Bürgerbewegung sei, diesen - unzulänglichen - Beschluss Wirklichkeit werden zu lassen und den Atomausstieg zu beschleunigen, dass man sich in Deutschland gegen Hermes-Bürgschaften für den Bau von Atomanlagen und gegen den Export von Atomtechnologie einsetzen wird. Dass Wissen Macht ist und deshalb dem Informationsausstausch mit den ukrainischen Umweltschützer/innen ein hoher Stellenwert zukommt.
Wolfgang Ehmke ist Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg.
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