Der Castor kommt, die Demokratie geht. Einmal im Jahr rollen zwölf Castorbehälter mit verglastem, hochaktivem Restmüll aus der französischen Plutoniumfabrik La Hague ins "Transportbehälterlager" Gorleben. Dort verlieren sich zur Zeit 44 Castoren auf 420 Stellplätzen in einer Halle. Sie stehen herum. Oberirdisch. Irgendwann sollen sie im Salzstock gleich nebenan in 800 Meter Tiefe endgelagert werden. Auch im kommenden November, wenn der achte Castortransport ansteht, wird es wieder grün im Wendland. Das ist die fünfte Jahreszeit. Wenn woanders die Blätter fallen, wimmelt es nur so vor Grün, grünen Uniformen von Bundesgrenzschutz und Polizei. Auf drei Einwohner kommt dann ein Polizist. Auf Berlin übertragen wären das eine Million Polizisten.
Zäh und mühsam, fast ausweglos mag da der Versuch erscheinen, polizeilicher Willkür juristisch etwas entgegen zu setzen. Doch die jahrelange Auseinandersetzung um die Herabwürdigung des Versammlungsrechts trägt erste Früchte. Dass bei den Polizeieinsätzen nicht nur Menschen, sondern auch gültige Gesetze verletzt werden, ist den Gerichten nicht verborgen geblieben. Ob Behinderung von Motorradfahrern oder stundenlange Festnahme von Jugendlichen in der Gefangenenstelle Neu Tramm, ohne ihnen Nahrung oder wärmende Getränke zu geben, ohne die Eltern oder Jugendämter zu benachrichtigen - immer wieder lautete der Richterspruch, die Polizei habe rechtswidrig gehandelt. Und die Beteiligung an Blockadeaktionen sei lediglich eine einfache Ordnungswidrigkeit - auch das haben Amtsgerichte in Dannenberg, Uelzen und Lüneburg wiederholt festgestellt, bestätigt vom Oberlandesgericht Celle. Anfang September wird sich nun das Verwaltungsgericht Lüneburg mit dem unheimlichen Zusammenwirken von Verwaltung und Polizei befassen, mit den Demonstrationsverboten.
Der Kessel von Karwitz
Das Pilotverfahren geht zurück auf den 8. Mai 1996. Damals rollte ein Zug mit atomaren Abfällen, verpackt in einem Castor-Behälter der Typenreihe TS 28 V, über Uelzen, Zernien nach Dannenberg-Ost und von dort weiter nach Gorleben. Nur einmal seit der Abwicklung der Castortransporte in das berühmt-berüchtigte Elbdorf (der erste fand 1995 statt) wurde diese Strecke benutzt. Etwa 19.000 Polizisten sicherten den Weg ins Zwischenlager. Acht Jahre nach diesem Ereignis beschied das Amtsgericht Dannenberg am 29. März 2004, dass die Einkesselung von Demonstranten am Bahnhof Karwitz rechtswidrig war. Eines der ältesten Verfahren in der prozessualen Aufarbeitung des Castor-Widerstands könnte damit vor dem - für die Betroffenen - glücklichen Ende stehen, wenn es von übergeordneten Gerichten bestätigt wird. Den langen Atem, der dem Gorleben-Widerstand immer wieder beschieden wird, bewiesen in diesem Fall die Hamburger Rechtsanwältin Ulrike Donat und drei Mandanten, die sich durch den Dschungel der Zuständigkeiten gekämpft und damit den kleinen Erfolgen von heute den Weg gebahnt hatten.
Was war geschehen? Am Vormittag des 4. Mai 1996, am Samstag vor dem Transport, demonstrierten 12.000 Menschen auf dem Dannenberger Marktplatz. Im Anschluss an die Kundgebung formierten sich Tausende auf der Umgehungsstraße zu einem eindrucksvollen Menschenbild: "Wir stellen uns quer!" Zeitgleich machten sich einige hundert Demonstranten auf den Weg zum Bahnhof Karwitz. Dort allerdings wurden sie von Polizei und Bundesgrenzschutz erwartet, denn der Aufruf zu einem "Schienenspaziergang", über Lautsprecher verkündet, war nicht zu überhören. Dennoch gelang es einer Gruppe von Demonstranten, für kurze Zeit den Bahnhofsbereich Karwitz der inzwischen stillgelegten Strecke zu besetzen. Die Räumung erfolgte unverzüglich. Danach stellten Polizeibeamte fest, dass auf einer Länge von 15 Metern an den Schienen Schrauben gelockert waren.
Das Amtsgericht Dannenberg protokolliert das anschließende Vorgehen der Polizei: "Daraufhin wurde gegen 15 Uhr von dem Polizeioberrat Hackländer aus Essen die Einschließung von ca. 150 Personen, die sich neben den Gleisen befanden - unter ihnen die Betroffenen - und ihr anschließender Abtransport nach Neu Tramm bei Dannenberg zur Personenfeststellung angeordnet." Das allerdings dauerte: Zunächst wurden die 150 Demonstranten auf dem Bahnsteig eingekesselt, erkennungsdienstlich erfasst und dabei einzeln gefilmt. Gegen 18.30 Uhr fuhren die Gefangenentransporter ab, und erst kurz vor Mitternacht erfolgte die Freilassung aus der Gefangenensammelstelle.
Dass die Freiheitsbeschränkung "von Anfang an, also bereits dem Grund nach rechtswidrig war", konstatiert das Dannenberger Amtsgericht. Die Kosten für das Verfahren müsse die Landeskasse tragen, um dem Rehabilitationsinteresse der Demonstranten Rechnung zu tragen. Diese befanden sich nämlich zu keinem Zeitpunkt auf den Schienen, sondern neben dem Gleiskörper. "Für eine Beteiligung an den behaupteten Straftaten (aufgeschraubte Schienenmuttern) fehlen jegliche personenbezogene Anhaltspunkte", heißt es in der Urteilsbegründung. Eine "undifferenzierte" Festnahme sei in jedem Falle rechtswidrig, und die Polizei hätte den Gleiskörper auch einfach abriegeln können, denn "Kräfte waren genug vor Ort."
Die Biker von Laase
In einem anderen Fall wurden Motorradfahrer am 13. November 2001 um 23.28 Uhr durch Polizeikräfte aus Sachsen-Anhalt gestoppt und stundenlang in einiger Entfernung von der Castortransportstrecke, dem Verbotskorridor für Demonstrationen, festgesetzt. Einer der Biker wurde um 5.07 Uhr in der Gefangenensammelstelle eingeliefert und um 8.05 Uhr, rund eine Stunde nach Eintreffen des fünften Castortransports im Zwischenlager Gorleben, freigelassen, wie die Polizei minutiös protokolliert. Eine Anhörung durch einen Richter erfolgte nicht. Ein bloßer Verdacht, die Bikergruppe hätte an einer Blockadeaktion am Ortsausgang Laase auf der Landesstraße 256 teilnehmen wollen, reiche nicht für den Freiheitsentzug, urteilt jetzt das Amtsgericht Dannenberg. Das Gericht stellt klar, dass es konkrete und auf die Person gemünzte Hinweise darauf geben müsse, dass der Kläger eine Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit hätte begehen wollen.
"Der pauschale kollektive Gefährlichkeitsverdacht ist niemals ausreichend", lautet einer der Kernsätze des Urteils. Amtsrichter Rüdiger Hobro-Klatte kritisiert die übliche Praxis der Polizei, "zunächst ohne Anbindung/Prüfung von gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen" eine "Ingewahrsamnahme" erst einmal anzuordnen und sofort zu vollziehen, um später zu prüfen, ob hierfür überhaupt ein rechtlicher Grund gegeben war. Eine solche Praxis verstieße gegen das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. So hätte das Verhalten der für verdächtig gehaltenen Gruppe und des Betroffenen zunächst nur beobachtet werden dürfen. "Der schlichte Verstoß gegen das Versammlungsverbot wird nicht als ausreichend erachtet", lautet der zweite Kernsatz dieser Grundsatzentscheidung.
Der Platzverweis für den Anwalt
In einem dritten Fall hat die Polizei ebenfalls rechtswidrig gehandelt, als sie den Hamburger Rechtsanwalt Wolf Römmig wiederholt an Kontrollstellen mit den Worten "Sie kommen hier nicht durch" stoppte. Für den Lüneburger Verwaltungsrichter Siebert eine klare Sache: Castor hin oder her, eine Kontrollstelle müsse auch eine Durchlassstelle sein. Wenn ein Anwalt sich klar ausweist und sogar um polizeiliche Begleitung bittet, um einen Kollegen oder Mandanten aufsuchen zu können, dürfe dies kein Grund sein, einen Platzverweis oder gar ein Aufenthaltsverbot auszusprechen, wie es das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz (NGfAG) vorsieht.
Die geschilderten Fälle sind exemplarisch und auf dem juristischen Parkett noch nicht abgeschlossen - ebenso wenig wie die Auseinandersetzung um die Atomkraft und Gorleben. Sich in diesem gesellschaftlichen Konflikt allein auf die Gerichte zu verlassen, wäre fatal. Aber ebenso falsch wäre es, die Möglichkeiten des Rechts nicht zu nutzen. Am Rande der Verhandlung in Sachen Römmig bedeutete der Vorsitzende Richter Siebert, dass noch vor dem nächsten Castortransport das Verwaltungsgericht zur Praxis der Versammlungsverbote durch die Bezirksregierung Stellung beziehen werde. Die Zeit ist nun reif.
Weitere Informationen bietet das Komitee für Grundrechte und Demokratie in seiner Broschüre Reise an das Ende der Demokratie - Erfahrungen aus den Demonstrationsbeobachtungen, 120 Seiten, 8,00 Euro. Zu bestellen unter: info@grundrechtekomitee.de
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