Not macht devisenempfänglich

UKRAINISCHES ENDLAGER Ein Salzbergwerk in Artemovsk könnte zum Schlupfwinkel für deutschen Atommüll werden

Merken Sie sich den Namen Artemovsk. Bis 1923 hieß Artemovsk Bachmut. Seit dem 16. Jahrhundert wird dort Speisesalz abgebaut. Die ukrainische Industriestadt liegt im südöstlichen Landesteil, Donezker Gebiet, auf den sich 45 Prozent aller Industriebetriebe konzentrieren: vorrangig Chemie, Eisenmetall, Maschinenbau und Kohle. Artemovsk ist möglicherweise bald um eine Branche "reicher", denn der Region steht eine strahlende Zukunft ins Haus - in einem Salzbergwerk soll Atommüll endgelagert werden. Das widerspricht zwar allen geologischen Grundsätzen, da es um hochradioaktiven Müll geht. "Unverritzt" sollte eine solche Deponie sein, will sagen, es gibt in einem bereits kommerziell genutzten Bergwerk zu viele Ritzen, über die Radioaktivität in die Biosphäre gelangen kann. Hierzulande wäre das bei der Standortsuche ein Ausschlusskriterium. Doch was nutzt Wissen, wenn die Not regiert.

Mit Tschernobyl hatte und hat die Ukraine bereits ihre Not. Funktioniert die "Deckung" des Sarkophags, aus dem immer noch Radioaktivität entweicht, oder funktioniert sie nicht? Für 30 Jahre sollte der Mantel aus 200.000 Tonnen Beton die Radioaktivität im Unglücksreaktor einschließen. Doch wie steht es um die Sicherheitskultur? Im Sommer letzten Jahres demonstrierten Arbeiter aus Tschernobyl in Kiew, weil ihnen heißes Wasser fehlte, die Telefone nicht funktionierten und auch der Lohn seit einem halben Jahr ausstand.

Immer noch pokert die ukrainische Führung hoch, und alle politischen Kräfte des Landes unterstützen sie. Sie verknüpft nämlich die Schließung des letzten AKW-Blocks in Tschernobyl mit der Fertigstellung der Kraftwerksblöcke R-2/K-4. Für dieses Projekt soll die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Kredite bewilligen. Präsident Leonid Kutschma wirbt auch bei der russischen Regierung um Unterstützung.

In der Ukraine gibt es schon fünf AKW-Zentren mit insgesamt 14 Reaktoren, von denen zur Zeit elf in Betrieb sind. Sie produzieren 43 Prozent des Stroms. Der Rest wird durch Wasser- und Kohlekraftwerke erzeugt. Wärmekraftwerke werden vorwiegend auf Ölbasis betrieben. Da es in der Ukraine keine nennenswerten Gas- oder Öl-Vorkommen gibt, muss Öl - wie auch Brennstoff für die AKW's - in Russland teuer eingekauft werden. Stromabschaltungen gehören zum ukrainischen Alltag. Mittags sitzt man in kleineren Städten ohne Strom, in Großstädten gibt es ausgeklügelte Zeitpläne für Stromabschaltungen. Die Energiekrise wird als wichtigste Aufgabe der Regierungspolitik gesehen - und so klammert sich die offizielle Politik an den Reaktorbestand.

Das hat weitergehende Folgen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion weigert sich Russland, abgebrannte Brennelemente anzunehmen. Folglich muss die Ukraine ihre eigenen Zwischen- und Endlagerkapazitäten schaffen. Das erste Brennelementbehälterlager entsteht in Saporoschje. Weitere in Rowno, Chmelnizkij und Juschno-Ukainsk sollen folgen. Die Behälter sind eine ukrainische Eigenproduktion. Im Westen Behälter einzukaufen, käme ja viel zu teuer. Die Pläne, in einem ausgedienten Salzstollen den Atommüll verschwinden zu lassen, gehorchen dieser Not.

Und nun gibt es einen Informationsaustausch zwischen ukrainischen Geologen und der deutschen Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR). Schließlich ist der alte BGR-Kader auch hierzulande "salzlastig", wenn er eine geeignete Endlagerformation sucht. In der "Asse", dem Versuchsendlager bei Wolfenbüttel, wurde wie in Artemovsk verfahren, ein ausgedientes Kalibergwerk wurde genutzt. Ebenso im DDR-Lager Morsleben. Und am Gorlebener Salz bleibt womöglich mit dem Segen der BGR alles kleben. Soviel zum Beratungshorizont - um es klar zu sagen: wenn in Artemovsk hochradioaktiver Müll eingelagert wird, dann bietet sich der entsorgungsgeschüttelten deutschen (und überhaupt der westlichen) Atombranche ein Ausweichplatz. Die ukrainische Not macht nicht nur erfinderisch für Notlösungen. Sie macht auch empfänglich für Devisen.

Das wissen die Umweltgruppen in der Ukraine. Es ist bewundernswert, mit welchem Elan Petitionen eingereicht, Kongresse absolviert und Ausstellungen zum Thema regenerative Energien organisiert werden. In Artemovsk sind dies vor allem "Bachmat" und "Mama-86-Artemovsk". Das lokale Fernsehen berichtet über die Probleme der Atommülllagerung. Für die Hauptstadt Kiew sind eine Protestaktion und eine Pressekonferenz geplant. Was noch weitgehend fehlt, ist internationale Unterstützung.

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