Menschengemäße Kunst muss
1. die Zerstörung des Menschengemäßen verhindern
2. das Menschengemäße aufbauen
Nur das ist Kunst und sonst gar nichts
Joseph Beuys
Eine elementare Ausdrucksform von Protest und Widerstand ist die Aktionskunst, elementare Triebfeder die Überlebenslust. Wo Fragende, Zweifelnde und wissend Handelnde in Aktion treten, entsteht Kunst, denn Kunst verhindert die Zerstörung des Menschengemäßen und ist - ganz im Wortsinn - Erbauung, erbaut das Menschengemäße. Wissen wird zur materiellen Gewalt, wenn es Beine bekommt, wenn viele Menschen, wissentlich und vom wissen Wollen getrieben, in Aktion treten und auf die Straße, die Schiene oder den Bauplatz gehen. Dort bauen sie Freundschaftshäuser und lassen sich von den Uniformierten vom Platz tragen. Oder erzählen sich Geschichten, weil Massenereignisse wie diese ihre Dauer und ihre Nachwirkung haben. Fast unmerklich machen sie dabei Geschichte wie die Menschen im Wendland, die sich zur Wehr setzen, seit Gorleben am 22. Februar 1977 als "Nukleares Entsorgungszentrum" benannt worden ist, und engagieren sich für den Ausstieg aus der Atomenergie. Messbar und sichtbar erzielen sie unermessliche Fortschritte. Verhindert wurden auf diese Weise in einem Vierteljahrhundert einige Tausend Megawatt Atomstrom. Gefördert werden endlich per Gesetz Sonne, Wind und Wasser. Es wird eine Zukunft geben, in der Energiepolitik nachhaltig ist und Neuinvestitionen im Energiesektor nicht mehr allein schnödem wirtschaftlichem Kalkül unterliegen. Das Menschengemäße wird das Naturgemäße sein, und die Zukunft hat schon begonnen.
Freilich sehen viele jener Aktivistinnen und Akteure "den Wald vor lauter Bäumen", die Windmühlen vor Atomkraftwerken nicht. Das ist verständlich, denn das "Alte" wurde noch nicht richtig abgeschlossen und das "Neue" hat noch nicht richtig begonnen. Doch Rückblenden markieren sichtbare Fortschritte. Die Spinner von gestern sind die Architekten der Energiepolitik im neuen Jahrtausend. Atomausstieg und Klimaschutz gehören heute zum common sense. Wie anders war die Lage Anfang der siebziger Jahre! Nach Jahren relativer Stabilität und ungehemmten Wachstums gerieten die Firmenbilanzen westlicher Industrienationen ins Stocken. Als Folge des Öl-Embargos arabischer Staaten bekamen sie ihre Anfälligkeit auf dem Energiesektor zu spüren.
Atomkraftparks im Wattenmeer?
Die vermeintliche "Ölkrise", der Kampf um Profitanteile zwischen den Ölmultis und den Ölförderländern der OPEC, führte zur künstlichen Verknappung des Öls auf dem Markt. In diesem Klima verhallten die Kassandra-Rufe für die Errichtung neuer, importunabhängiger Energietempel nicht ungehört. Wollt ihr denn, dass die Lichter ausgehen? Die Atomfanatiker knüpften an die Nazi-Metaphorik "Volk ohne Raum" an und warnten: Ein Volk ohne Energie! Die "Kernenergie" versprach Erlösung. Sie stand geradewegs für Fortschritt und Zukunft. Der Streit um die Begriffe - "Kern" statt "Atom" - und der Kampf um die Köpfe der Menschen war entbrannt. Staatliche und stattliche Förderprogramme wusste die Atomwirtschaft zu nutzen. Der Förderzweck dieser aufwendigsten und riskantesten Art der Stromproduktion wurde sogar ins Atomgesetz geschrieben. Professor Wolf Häfele, Wissenschaftsmanager des Energieprogramms am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse im Schloss Laxenburg bei Wien, später Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages für Energiepolitik, einer der Missionare für Atomkraft und strahlende Zukunft, legte das Szenario vor: eine 850 Seiten starke Verheißung mit dem Titel "Energie in einer endlichen Welt" (1973). Da wurden Strommengen nicht mehr in Kilowatt, Megawatt oder Gigawatt, sondern in TW (Terawatt) gemessen. Häfele prognostizierte einen dramatischen Anstieg des Weltenergiebedarfs von acht (1976) auf 35,7 TW (2030).
Dank Atomkraft sollte niemand auf sein Heizkissen, den Haarföhn oder die heizbare Regenrinne verzichten müssen. Um die Zahlen ein wenig anschaulich zu machen, hier ein Beispiel: würden die acht TW des Weltenergiebedarfs allein durch Atomkraftwerke gedeckt, so müssten dafür 5.000 AKW vom Typ Biblis A in Betrieb sein, außerdem hätten jährlich 100 Atommeiler errichtet werden müssen. 50 Brennelementfabriken, 50 Wiederaufbereitungsanlagen, 300 Zwischenlager und 50 Endlager wären vonnöten gewesen. Tatsächlich waren Ende der siebziger Jahre "Atomkraftparks" im Wattenmeer und mehrere "Entsorgungsparks" in der Lüneburger Heide im Gespräch. Manch einem ging zu dieser Zeit kein Licht aus, sondern ein Licht an!
Volxküche Castornix
Sie sitzen auf der Bank vor dem grob gezimmerten Freundschaftshaus: strickende Frauen, Schüler und Rentner, Bauern und der Koch aus der Heimvolkshochschule Göhrde. Wir schreiben das Jahr 1994. Der Sommer ist heiß, die Stimmung relaxed. Seit vier Wochen lebt, lacht und diskutiert eine heterogene Schar unter schattigen Kiefern im Widerstandsdorf "Castornix".
Was war geschehen? Der erste Castorbehälter, der aus dem Atomkraftwerk Philippsburg ins Zwischenlager Gorleben rollen sollte, stand immer noch auf dem Kraftwerksgelände. Elf Jahre lang war die Inbetriebnahme der Atommülldeponie verhindert worden. Es war die Zeit der ungezählten Latsch- und Treckerdemos und des Aktenklaus. Die Gorleben-Kläger hatten Dusel vor Gericht, den Betreibern fehlten technische Nachweise - all das und noch mehr hatten dem Wendland den ersten hochradioaktiven Müll erspart. Nun wurde es ernst. Eine letzte Atempause: Pleiten, Pech und Pannen, die es bei dem Versuch gab, den Behälter mit der hochradioaktiven Fracht in Philippsburg zu beladen, weckte widerständiges Leben. Statt untätig zu warten, wurden Hütten gezimmert, Bauwagen herangekarrt, Planen zwischen den Bäumen gespannt - aus dem Unterholz erwuchs "Castornix". Ein eigentümliches Dorfleben mit Volxküche und Brandwache, Theaterworkshops und Rollenspiel, Solikonzerten und Dauerdebatten entfaltete sich.
So lauschten die "Dorfbewohner/innen" einem Vortrag von Udo Jentzsch über die biologische Wirksamkeit von Neutronenstrahlung. Der rüstige Rentner ist pensionierter Strahlenphysiker und hat jahrelang im Kernforschungszentrum Geesthacht gearbeitet. Inzwischen engagiert er sich in der "Fachgruppe Radioaktivität" der Bürgerinitiative im Wendland. Am Tag zuvor in der Dorfkneipe nebenan hatte Geologie-Professor Dr. Klaus Duphorn über das Quartär als geologisches Leichentuch des Endlagerbergwerks Gorleben vorgetragen.
Orte jener Verquickung von wissen Wollen und Kunst Können sind die Freundschaftshäuser mit ihrem Mix aus Vortrag, Palaver und Kulturprogramm. Das hat Tradition. Das erste Freundschaftshaus wurde bei der Platzbesetzung im Wyhler Wald errichtet. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen, Demonstrationen und Grenzblockaden stürmten im Februar 1975 im Anschluss an eine Kundgebung Tausende das Baugelände und besetzten den Platz - es war die "Geburtsstunde" der Anti-Atom-Bewegung. Viele Geburtshelfer gab es. Da war die Bewegung in den fünfziger Jahren "gegen den Atomtod", gegen die drohende atomare Bewaffnung der Bundeswehr und die Gefahr der Proliferation der Atomtechnologie, deren militärischer Ursprung gern verleugnet wurde. Dann die Studentenrevolte mit ihren Sit- und Go-, Love- und Teach-ins. Stets schwang eine Prise Woodstock mit. Festivalatmosphäre herrscht bis heute bei jedem Castortransport, der im Münster- oder Wendland verhindert werden soll. Es wird gerockt. Die Toten Hosen kommen mit einem Pritschenwagen und lassen sich vom Wasserwerfer abduschen. Altes Glas aus Neuen Scherben, die alten Rio-Reiser-Gefährten, haben sich wieder zusammengefunden und besingen den Traum von einer besseren Welt. Das geschah erst kürzlich, ein Vierteljahrhundert nach der Platzbesetzung in Wyhl, im März 2001, und zwar in Dannenberg/ Elbe, der Castor-Verladestation.
Freie Republik Wendland
Die Freie Republik Wendland, das Hüttendorf auf der Tiefbohrstelle 1004 über dem Salzstock Gorleben, war das herausragende Beispiel einer Symbiose von Kunst und Wissen(schaft). Damals, im Mai und Juni 1980, hielt Jo Leinen einen Vortrag über Frieden und Ökologie. Das Puppenspiel "Die Bundschuhbauern" wurde aufgeführt. Walter Mossmann kam, blieb auf 1004 und kreierte das Gorlebenlied. Es gab ein eigenes Radio und Filme über die Platzbesetzung, über jene sechs Wochen "anarchistischen Frühlings". Dazu eine Dichterlesung mit Klaus Schlesinger, Wolf Biermann war da und der Juso Gerhard Schröder. Es gab Rock, Folk und Blues, Schweine, Hühner, eine Solaranlage, ein Frauenhaus und wo man hinhörte: Diskussionen. Beim Zähneputzen, Abwaschen und auf dem Donnerbalken. Über Demokratie und Polizeigewalt, über Halbwertzeiten und Bohrergebnisse. Heinz Brandt, der streitbare IG-Metaller und Humanist, fand dafür folgende Worte: "Die Freie Republik Wendland mit ihrem Sonnenbanner auf grünem Grund war natürlich ordnungswidrig: Sie war ordnungswidrig natürlich, mithin von Natur aus ordnungswidrig."
Es war ein (Über-) Lebensdorf und nachhaltig nicht nur in den Parolen, die bis heute Bestand haben: Atomkraft - nein danke, inzwischen mutiert zu Sonnen-, Wind- und Wasserkraft - ja bitte.
Es ist bereits Kunst, dass Bewegte und Unentwegte, allein von ihrem Wissen getrieben, die Geschichte so nachhaltig bewegen. Die Straßenblockade, die viele Hände aus Sandsäcken gegen den Castor aufschichten, ist natürlich ein symbolischer Strahlenschutzwall. Die nächste Blockade nachts im Gleisbett wird mit Liedern und Meditation bestanden. Der Ökomarkt der Biobauern vor den Toren von Gorleben versperrt die Zufahrten zur Atommülldeponie. So ganz nebenher schreiben die Menschen durch ihr demonstratives Tun auch die Demokratie-Entwicklung fort. Höchstrichterlich quittiert das Bundesverfassungsgericht, dass außerparlamentarischer Protest ein Funktionselement der Demokratie ist (Brokdorf-Urteil vom 14.5.85) und dass Sitzblockaden nicht per se nötigende Gewalt sind (Sitzblockaden-Urteil vom 10.1.95).
Wir leben ja in einer Wissensgesellschaft, und so manch eine/r macht auch was daraus, sucht kreativ nach Ausdruck: provozierend provokant, phantastisch phantasievoll. Immer wieder mussten Flugblätter und Broschüren getextet, Infostände auf- und Vorurteile abgebaut werden. Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit gegen das Restrisiko, das einem beständig den Rest geben könnte. Wer kannte den Unterschied zwischen "natürlicher" und "künstlicher Strahlung", wer konnte Energiebedarfsprognosen widerlegen? Die Rolle der Öko-Institute in Freiburg und Darmstadt, der Gruppe Ökologie in Hannover oder des Wuppertal-Instituts - um nur einige zu nennen - wuchs und wuchs. Wissenschaftliche "Außenseiter" von damals formulieren heute jenen common sense, gründeten Forschungsinstitute, gaben die Forschungsrichtungen und entscheidende Innovationsanstöße vor. Mittlerweile fungieren sie als ministerielle Berater.
Der "Atomkonsens" - Kunst gegen Anpassung
Der Ökologiegedanke durchwirkte in den achtziger und neunziger Jahren wie ein Sauerteig die bundesrepublikanische Gesellschaft. In der ökologischen Themenvielfalt ging das Thema Atomausstieg fast unter - trotz Tschernobyl. Doch die Bürgerinitiativen bleiben radikales Ferment, auch notwendiger Treibsatz für Parteipolitiker. Denn 1998 waren SPD und Grüne mit dem Versprechen angetreten, bei einem Wahlsieg die Forderung des außerparlamentarischen Protests umzusetzen. Und tatsächlich gelang der Sieg. "Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wird innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich geregelt." So lautet der Kernsatz der Koalitionsvereinbarung. Bis dahin war es ein langer Weg, und er ist noch nicht zu Ende beschritten. Auf der Habenseite der (Über-) Lebenskünstler/innen stehen bislang symbolträchtige Investitionsruinen wie Kalkar, Hamm, Hanau und Wackersdorf. Kernenergieinvestitionen in Höhe von 15 Milliarden DM wurden allein in den Jahren 1988 bis 1995 zum Scheitern gebracht, klagt der Vorstandsvorsitzende des Energiegiganten RWE, Roland Farnung, in seinem Geschäftsbericht 1996. Es war das Ergebnis eines unabgesprochenen Zusammenspiels zwischen dem ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug einiger Bundesländer, der Umwelt- und Protestszene und - nicht zu vergessen - der Zu- und Vorarbeit der Öko-Institute. Denn jetzt ging es nicht mehr um Wissen, sondern Wissenschaft war gefragt, um auch vor den Verwaltungsgerichten die Auseinandersetzung zu bestehen.
Nach der Unterzeichung des Konsensvertrags im Mai und der Atomgesetznovelle im Dezember 2001 sind die Kritiker sauer und auf dem Weg back to the roots. Auf der Sollseite notieren sie: Der Atomkonsens zwischen Regierung und Stromwirtschaft wird zu sehr von den Interessen der Wirtschaft diktiert. Fortsetzung der Wiederaufarbeitung, lange Reaktorlaufzeiten, komfortable Übertragbarkeit ausgeklügelter Atomstromkontingente von Reaktor zu Reaktor. Gemessen an den Stromkontingenten, die nuklear erzeugt werden dürfen, ist die Atomkraft auf ihrem Zenit angekommen und lediglich ein Auslaufmodell. Beratung und Beschlussfassung schlossen gewichtige gesellschaftliche Gruppen aus. Die Akteure sind weit entfernt von einem gesellschaftlichen Konsens. Bislang markiert lediglich die Etikette Atomausstieg den Fortschritt. Die forcierte Stilllegung der Reaktoren und die Förderung regenerativer Energien brauchen weiter eine Lobby. So müssen die Überlebenskünstler/innen unter Beweis stellen, wie beharrlich und nachhaltig sie selber sind.
Das neue Problem, die wachsende Gefahr ist unübersehbar: Ökologischer Sachverstand ist immer mehr in die Regierungspolitik eingebunden. Der Fortschritt droht zu erstarren, wenn er Teil parteilicher und parteiischer Vorgaben wird. Dafür gibt es einen Begriff: Auftragsarbeit. Der menschengemäßen Verlockung widerstehen, Ämter und Funktionen gegen die schleichende Anpassung einzutauschen, sich auf den ursprünglichen Auftrag besinnen: Nur das ist Kunst und sonst gar nichts. Wem es gelingt, dem gebührt ein Preis. Der erste Preis geht jedoch eindeutig an die Bewegten und Untentwegten im Wendland.
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