Warum fällt es Politikern schwer, Fehler einzugestehen? Aus demselben Grund zunächst wie jedermann: Es ist nicht angenehm. Und es drohen Sanktionen: Spott, Missachtung, materielle Haftung, im ärgsten Fall verliert man Freunde, Mitstreiter, gar seinen Job. Am besten rechnet man mit dem Schlimmsten und schweigt, solange es geht: Und wenn das nicht (mehr) geht, redet man die Sache klein.
So wie jüngst Ulla Schmidt, die rechtlich keinen Grund sah (und, wie sich inzwischen erwies, auch keinen hatte), sich etwas vorzuwerfen, und meinte, mit trotzigen Beharren durchzukommen. Sie kam nicht durch. Wer im legalen Rahmen handelt, kann seine moralische Autorität gleichwohl riskieren; das hätte sie wissen müssen, gerade als Politikerin. Dieser Fehler wog schwerer, als der, den man ihr vorwarf; erst dadurch wurde der Diebstahl ihres Dienstwagens zur „Dienstwagenaffäre“ und diese zu einem Fest für die Konkurrenz.
Apropos Konkurrenz. Konkurrenten lauern beinahe überall, und oft genug mischen sich unlautere Motive in den Wettbewerb um Stellen, Ämter, Anerkennung, Ruhm; das gilt für die soziale Welt im allgemeinen und für die politische im besonderen. Hier sind es nicht einzelne, die auf einen Fehler, einen Fehltritt lauern, um daraus ihren persönlichen Vorteil zu ziehen. Hier wird die Missgunst zum Beruf, zum Hauptnahrungszweig ganzer Mitarbeiterstäbe. Sie drehen jede Handlung, jedes Wort solange herum, bis ein verborgener Sinn darin erscheint, der sich für ihre Zwecke ausschlachten lässt. Auch die Nichthandlung ist eine Handlung, wie schon Schiller wusste, und unterliegt als „unentschuldbares Versäumnis“ derselben Prozedur. Alles, was in diesem Machtraum geschieht, geschieht in einer Atmosphäre des Verdachts. Und weil das jede(r) weiß, avanciert Vorsicht zur höchsten Tugend. „Warum geschieht überhaupt etwas, warum geschieht nicht vielmehr nichts?“ – diese Frage, die den großen Leibniz umtrieb, ist die Gretchenfrage des politischen Alltags.
Unendlich verwässerter Wein
Weil es Möglichkeiten gibt, die Autorschaft politischer Entscheidungen und Taten zu verschleiern, lautet eine Antwort. Vor aller Augen handeln, von Missgünstigen auf Schritt und Tritt verfolgt und zugleich in Deckung gehen: Wie kann das funktionieren? Indem man sich die Zeit zum Bündnispartner macht. Die Zeit, um genau zu sein, die zwischen Wort und Tat und letzter Konsequenz verstreicht.
Ehe ein politisches Wort Gesetzeskraft erlangt, Verbindlichkeit für alle, reden viele mit. Heraus kommt in der Regel, was keiner genau so gewollt hat: unendlich verwässerter Wein. Bis der verkonsumiert wird, geht wieder Zeit ins Land, Zeit der Umsetzung, Anpassung, Novellierung etc. Die Angebote und Versprechungen, die Politiker den Bürgern unterbreiten, unterscheiden sich von den Offerten des Bäckers um die Ecke häufig durch mangelnde Griffigkeit und stets durch ihre lange Laufzeit. Der Weg von der Gesetzesinitiative zum Endverbraucher ist der Weg des Vergessens.
Vergessen und vergessen und vergessen: Gleich dem Politiker strapaziert der Fondsmanager dieses unverdiente Glück. Wenn beider Klienten als Bürger oder Kunde aufmucken, weil sie sich betrogen fühlen, dann haben sich übers Jahr ganz einfach die „Bedingungen“ verändert und die Erfüllung des Versprechens durchkreuzt; niemand konnte „das“ voraussehen ...
Politikern das Geständnis abzuverlangen, alles falsch gemacht zu haben, wäre unbillig. Aber das derzeitige Desaster vor Augen, das sie zumindest mit bereiten halfen, scheint die Erwartung des Bekenntnisses eben dieser Mitschuld wohl begründet. Sie wurde und wird enttäuscht. Die deutsche Politik als Koproduzent der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise – keinesfalls! Schuld tragen die anderen, vorzugsweise die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Die schlugen frühzeitige Warnungen in den Wind und verhinderten gemeinsames Gegensteuern.
Abgesehen von der Pikanterie, die darin liegt, dass vielfach dieselben deutschen Politiker, die die westliche Führungsmacht Jahrzehnte lang für sakrosankt erklärten, heute, nachdem es opportun ist, auf dieselbe nach Herzenslust einprügeln, ist hier wiederum Vergessen im Spiel, gepaart mit schamloser Lüge.
Fiel die „Modernisierung“ Deutschlands, diese einheimische Weichenstellung zum globalen ökonomischen Krach, etwa nicht in die Periode der rot-grünen Regierung? War es nicht deren Arbeits-, Sozial- und Steuergesetzgebung, die die deutsche Gesellschaft verspätet, aber desto entschlossener dem neoliberalen Dogma unterwarf? Lebte die Deregulierung des Finanzsektors nicht von der irren Hoffnung, dem globalen Spielgeld, der frivolen Plusmacherei eine weitere Heimstatt zu geben? Die üble Praxis des „Seitenwechsels“ schließlich, dank der Abgesandte aus der Wirtschaft just die Gesetze schrieben (und noch immer schreiben), von denen sie profitierten – nur eine böswillige Unterstellung oder ein harter Fakt?
Die damalige bürgerliche Opposition fand das alles viel zu lasch, zu unentschlossen und forderte mehr vom Selben. Speziell die deutschen Liberalen verfolgten, buchstäblich gelb vor Neid, wie der politische Gegner ihr ureigenes Projekt (Vorfahrt für die Starken, Tüchtigen, die „high potentials“, keine Gnade mit sozialen Parasiten!) aufgriff und verwirklichte. Sie alle steuerten denselben verhängnisvollen Kurs und freuten sich der Panik auf dem Unterdeck. Ein klärendes Wort dazu in eigener Sache – war das zu viel verlangt?
Sich zu seinen eigenen Taten bekennen, ohne Scheu, mit Stolz sogar und dennoch in Deckung gehen – auch das gehört zum Rüstzeug gestandener Politiker. Dann inszeniert man sich als Vollstrecker höherer Gewalt, als jemand, dessen Hand und Stimme nur der ehernen Notwendigkeit gehorcht.
Auf diese Weise erwarb sich die SPD unter Gerhard Schröder das Markenzeichen einer, ja der Reformpartei. Deutschland musste „modernisiert“ werden, um seine Stellung unter den fortgeschrittenen Industrienationen zu behaupten, und das wiederum musste genau so geschehen, wie es faktisch geschah: unter der geistigen Federführung von Peter Hartz, eines Bosses aus der Wirtschaft.
Verzweifelte Versprechen
Seit der vor Gericht stand und als Lügenbaron galt, den das falsche Versprechen eingeholt hatte, die Arbeitslosenzahlen binnen zweier Jahre zu halbieren, verlor er seinen Platz in der sozialdemokratischen Ehrengalerie. Nicht so die große Wende, die er mehr als nur einzufädeln half: die Unterwerfung der Masse der Arbeiter und Angestellten unter eine rein angebotsorientierte Beschäftigungspolitik. Mit seinen „Reformen“ senkte Hartz die Schwellen zumutbarer Arbeit so weit ab, dass die Ablehnung selbst unwürdiger Formen der Lohnarbeit die nackte Existenz in Frage stellte, und er tat dies zum ausdrücklichen Wohlgefallen der Parteiführung. Eine wahrhaft verrückte Partnerschaft für eine um die Arbeitnehmerschaft herum gebaute Volkspartei; offenes Geheimnis ihres Ansehens- und Machtverlustes; Startsignal für eine gesamtdeutsche Linkspartei.
Hier müsste die Fehlersuche ansetzen, um zu der Ansicht vorzudringen, dass nichts von dem, was seinerzeit erdacht und beschlossen wurde, alternativlos war. Stattdessen beglückte der Kanzlerkandidat der SPD das Publikum mit dem verzweifelten Versprechen, die Arbeitslosigkeit im Verlauf der nächsten Dekade zu besiegen; eine Neuauflage der Vollbeschäftigungslüge statt der dringend notwendigen Revision des geistigen Inventars. Dem Kandidaten vorzuwerfen, dass er dem Wahlvolk eine Langfristperspektive präsentiert, hieße den Kleinmut, der Politiker nur allzu oft befällt, wenn die Rede auf die Zukunft kommt, zur allgemeinen Norm erheben. Der Vorwurf zielt allein auf das Konkrete der „Vision“. Sie erhebt Erwerbsarbeit zum einzigen Garanten gesellschaftlicher Teilhabe. Die Rede von der Vollbeschäftigung dient als Alibi, um von Alternativen, einem Grundeinkommen beispielsweise, schweigen zu können; das gilt für Frank-Walter Steinmeier und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für die gesamte politische Elite.
Abgeschmackte Losungen mobilisieren niemanden. Was außer wirklich kühnen Zukunftsentwürfen Not tut, ist Mut zur Wahrheit und zur Klarheit. Wer den Mut fasst und sagt „Ich habe in manchen Dingen von Belang geirrt, gefehlt, den falschen Weg beschritten, mit anderen, in gutem Glauben“, erhält, da kann man sicher sein, am Wahltag einen Bonus. Nur will den, scheint es, keiner haben.
Wolfgang Engler, geboren 1952 in Dresden, Soziologe und Rektor der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin. Autor zahlreicher Studien zur Kultur der Moderne, zum Wandel des Politischen und zu Ostdeutschland. Zuletzt ist von ihm im Aufbau-Verlag erschienen
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