Brüder des Gemetzels

Oper Calixto Bieitos „Moses und Aron“ verweigert sich der Aktualität, ausgerechnet in Dresden
Ausgabe 40/2018

Arnold Schönberg verfälscht in seiner Oper Moses und Aron die biblische Geschichte. Vom Berg Sinai mit den Gesetzestafeln zurückgekehrt, richtet Moses kein Strafgemetzel an. Obwohl doch anders als im Alten Testament das Auserwählte Volk in seiner Abwesenheit nicht bloß ums Goldene Kalb tanzt, sondern sich in eine unfassbare „Orgie der Vernichtung und des Selbstmordes“ steigert, so Schönbergs Regieanweisung. In dieser Oper haben die Regisseure deshalb nicht wie üblich damit zu tun, die Handlung szenisch zu entfesseln, sondern klug zu zähmen. Damit jedoch hat es an der Dresdner Semperoper ausgerechnet der namhafteste Skandalregisseur übertrieben. Der Spanier Calixto Bieito, berühmt für Gewalt und Sex auf der Bühne, lässt die wild gewordenen Hebräer nur noch egomanisch im Internet verblöden. Mag sein, dass bei Bieito inzwischen das Ausbleiben des Erwartbaren der größere Skandal ist. Aber bitte nicht in dieser Oper und nicht in Dresden. In der Hauptstadt Sachsens darf doch niemand übersehen, worum es in dieser Oper wirklich geht. Moses und sein Bruder Aron repräsentieren zwei radikale Prinzipien politischer und geistiger Führerschaft.

Moses ist religiöser Fundamentalist, Asket und Visionär. Ein vermeintlich Auserwählter, für den allein das Gesetz Gottes zählt. Er unterdrückt die Gesellschaft mit Sittenstrenge, verbietet Bilder, denn Gott ist für ihn allein durch das Wort erfahrbar. Aron dagegen, der zweite Mann des Regimes, ein leutseliger, gewissenloser Populist, gibt dem Volk alles, wonach es begehrt. Aron: „Ich liebe dieses Volk“. Moses: „Ich liebe meinen Gedanken.“ Demokraten sind beide nicht. Erst ist das Volk blind für die kalte Moral des Moses, dann verblendet von der zerstörerischen Freiheit, die Aron ihm gewährt. Im Übrigen erzeugt dieses Lehrstück über politische Führung noch andere Gedanken: Die Ägypter wären mit einer klugen Integrationspolitik gegenüber den Hebräern besser gefahren. Und Moses‘ Entschluss, sein Volk 40 Jahre in der Wüste darben zu lassen, war auch nicht alternativlos. Zu besichtigen sind die Folgen.

Prinzipien im Galopp

Was für ein Stoff in unserer Zeit! Doch Bieitos Regie verweigert sich der brennenden Aktualität. In der Semperoper wird an diesem Abend die Realität feige ausgeblendet. Der Abend erbaut, aber erschüttert nicht –auch dies ist eine Form von Populismus.Die Stärke dieses unvollendeten Opernfragments besteht nicht zuletzt in Schönbergs Ambivalenz. Er schlägt sich zunächst auf die Seite des jüdischen Ayatollahs Moses. Weshalb? Vermutlich, weil er als Propagandist der Zwölftonmusik selbst ein künstlerischer Ideologe ist. Trotzdem lässt er seinen Moses nur mit Sprechgesängen aufs Volk donnern. John Tomlinson, ein Weltstar der Opernbühne, ist ein grandioser Moses. Wirklich singen soll nur der populistische Tenor Aron (Lance Ryan).

Die Radikalität der Zwölftonmusik erinnert tatsächlich etwas an die Prinzipienreiterei eines Moses und hat sich deshalb auch nicht durchgesetzt. Aber in diesem Werk tönt sie gewaltig und alles andere als unsinnlich. Alan Gilbert, langjähriger Chef der New Yorker Philharmoniker, entfesselt Staatskapelle und Chöre. Es ist auch der Auftakt einer neuen Ära der Semperoper unter dem neuen Intendanten Peter Theiler. Musikalisch ein großer Abend. Als gesellschaftlich relevante Kunst aber hat die Oper eine Chance vertan.

Info

Moses und Aron, Arnold Schönberg, Semperoper Dresden, 6./10./15. Oktober

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