Nicht weniger als Operngeschichte wollte man schreiben. In Wagners Bayreuth stand mit der Ukrainerin Oksana Lyniv erstmals eine Frau am Pult. Und in Mozarts Salzburg spannte man den derzeit begehrtesten und radikalsten Dirigenten, den Griechen Teodor Currentzis, mit seiner musicAeterna-Truppe aus dem sibirischen Perm zusammen mit dem italienischen Regisseur und Gesamtkunstwerker Romeo Castellucci. Fazit: Ihren durchaus kontrovers aufgenommenen Don Giovanni wird man so schnell nicht vergessen. Der Fliegende Holländer in Bayreuth dagegen ist zum Vergessen, obwohl doch auch dort das Stück ganz anders und neu gedeutet wird. Wie kann das sein?
Und wie soll das gehen mit diesem toxischen Frauenverbraucher Don Giovanni, der über seine Eroberungen penibel Liste führt und am Ende zur Hölle fährt? Der Regisseur hat 150 Salzburgerinnen, Frauen jedes Alters, jedes Typs auf die Bühne geholt. Sie kommen, „um sich den eigenen Körper, eine Präsenz, eine Biografie zurückzuholen. Die entsetzliche Liste des Registers verwandelt sich in ein Element aus Fleisch und Blut, das berührt und bewegt“ (Castellucci). Doch gerade als Masse, mal fast nackt, mal uniformiert, verlieren diese Frauen ihre Individualität. Ihre Körper sind das bewegte und bewegende Bühnenbild des zweiten Aktes.
Doch ist das keine feministische Phalanx. Sie himmeln den Don sogar an. Er ist ihr Guru. Noch vor der Ouvertüre lässt er eine Kirche ausräumen, entweiht sie durch einen Ziegenbock. Doch er zerstört nicht nur – er gründet seine eigene esoterisch-erotische Kirche. Die Registerarie wird vorgetragen als wär sie Giovannis Credo. Er hypnotisiert die Frauen – betörend langsam, fast ersterbend besingt er sie. In seiner Kirche ist der Tod stärker als die Lust.
Während er seine Canzonetta schmalzt („Ach, komm und stille meinen Schmerz“), hängt er wie ein Gekreuzigter an einer Leiter, der einsamste Mann auf der größten Opernbühne der Welt. Nachdem er Zerlina beinahe vergewaltigt hat, zieht er ein Gerippe hinter sich her. Die Todessymbole wollen kein Ende nehmen. Da sinkt eine schwarze Trauerkutsche aus dem Schnürlboden, und während Giovanni sein „Viva la Libertá“ schmettert, zertrümmert er mit dem Baseballschläger eine Schaufensterpuppe. Natürlich zerrt ihn kein steinerner Gast aus dem sündigen Leben. Nackt wälzt er sich in weißer Farbe: eine Art Ritualselbstmord. Gleich liegen alle Figuren wie die Vulkantoten aus Pompeji auf der Bühne. Ein äußerst rätselhaftes Mysterienspiel geht zu Ende, eine schwarze Messe – ganz in ätherisch vernebeltem Weiß (auch Bühne und Kostüme von Castellucci). Überfrachtet, doch ungemein anregend.
Nur hat das Dramma giocoso nicht mehr viel von einer Komödie. Vor allem, weil der Regisseur eigentlich keine Geschichte erzählt, sondern philosophische Tableaus in Szene setzt. Er findet eine kongeniale musikalische Entsprechung. Teodor Currentzis, der Klangmagier in Springerstiefeln, genießt ja inzwischen selbst den Ruf eines Klang-Gurus. Auch er übertreibt seine enormen Mittel, aber auch das will gekonnt sein. Wie lange der ästhetische Extremismus wohl gut geht? Auch an pausenlosen Effekten kann man ermüden.
Zwei Stimmen ragen in dieser Inszenierung heraus. Die Weltkarriere der Nadeshda Pavlova wird hier und jetzt als Donna Anna beginnen. Ihre Stimme erzeugt so noch nie gehörte magische Momente. Und der ewige Schwächling vom Dienst, ihr Verlobter Don Ottavio (der wunderbare lyrische Tenor Michael Spyres) wird endlich rehabilitiert und zur Schlüsselfigur. In flamboyanten Kostümen und mit kurios geschorenen weißen Pudeln an der Leine darf er als Einziger komisch sein.
Wurde der Don Giovanni faszinierend neu mystifziert, so hat man in Bayreuth den Fliegenden Holländer lediglich entmystifiziert. Das ist ein entscheidender Unterschied. Der andere: Musik und Regie sind in Salzburg eins. In Bayreuth zerschellen die Wogen von Wagners romantischem Seestück am trockenen Realismus der schnöden Regie.
Trostloses Wüstenrotballett
Auf der Flucht vor seinen Gläubigern in Riga geriet Wagner auf einem Segelschiff in einen höllischen Sturm. Das wilde Tosen verband er mit einer Geschichte, die er bei Heinrich Heine gelesen hatte. Ein Kapitän lässt sich mit dem Teufel ein. Er wird dazu verdammt, als Untoter auf seinem Geisterschiff herumzuirren, bis ihn eine liebende Frau endlich erlöst und mit ihm in den Tod geht.
Diese Schauergeschichte hat Regisseur Dmitri Tcherniakov gründlich entzaubert. Fragt sich nur, wozu? Ein Märchen ist ein Märchen. Muss man eigens betonen, dass heute Frauen ihre Bestimmung nicht mehr in der aufopferungsvollen Erlösung von Männern sehen und Männer nicht mehr „durch die Weiber im günstigsten Falle zu Grunde gehen“ (Heinrich Heine).
Übrig bleibt ein banaler Thriller. Einst hatte die rigide Dorfmoral eine Frau in den Tod getrieben. Ihr traumatisierter Sohn kehrt als Rächer zurück. Als „Fliegender Holländer“ knallt er wahllos Leute über den Haufen, ehe er von einer Frau nicht etwa erlöst, sondern erschossen wird. Anders als in Wagners Libretto hatte Senta das auch gar nicht vor. Sie wollte mithilfe des sonderlichen Fremden nur der fürchterlichen Enge des norwegischen Küstenkaffs entkommen. Leider geht der Plot überhaupt nicht auf.
Nichts gegen einen Thriller – aber dann bitte nicht so todlangweilig inszeniert. Seine wilde Abenteuergeschichte erzählt der Holländer, während er in einer schnieken Kneipe hockt und danach brav seinen Drink bezahlt. Die endlose Szene am Tisch der Familie Daland im winzigen Wintergärtlein ihres Häuschens: nichts passiert – und auch das nur auf wenigen Quadratmetern, das Bühnenbild entwarf ebenfalls Tcherniakov. Manchmal drehen sich zur aufwühlenden Musik nur die geklinkerten Häuschen – ein trostlos menschenleeres Wüstenrotballett im trüben Licht der Straßenlaternen. Bei Wagner spielt das alles an Bord auf stürmischer See und an „nackter Felsen Strand“.
Da ist es ein Wunder, dass nicht auch die Musik zur Untoten erstarrt. Das ist den prächtigen Stimmen zu verdanken. Der Schwede John Lundgren gibt mit kantigem Kahlkopf den Holländer, der bayreutherfahrene Bassist Georg Zeppenfeld den müden Familientyrann Daland. Herausragend der hochdramatische Sopran und die darstellerische Wucht der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian, deren Weltruhm vor drei Jahren in Salzburg als Salomé begann. Sie allein lohnt den Besuch.
Gegen die szenische Düsternis hat es Oksana Lyniv am Pult schwer. Sie ist eine zupackende Kapellmeisterin, ob sie aber einmal eine große Dirigentin werden wird, beantwortet ihr Debüt im tiefen Orchesterschlund Bayreuths noch nicht. Sie kämpft wie auch jeder Mann mit den sehr speziellen Klangverhältnissen. Dass in Bayreuth, wo von Cosima über Winifred bis Katharina Wagner lange Zeit Frauen herrschten, nun endlich auch eine Frau dirigiert, ist aber keine Sensation, sondern nur peinlich. Auch in dieser Hinsicht ist Salzburg längst voraus.
Die Bayreuther Festspiele fielen im vergangenen Jahr ganz aus, Salzburg dagegen trotzte Corona mit halbem Publikum und gerafftem Programm (der Freitag 34/2020). In der nun zweiten Corona-Saison sind in Salzburg wieder alle Plätze belegt, in Bayreuths Festspielhaus weniger als die Hälfte. Auch die Hygienevorschriften sind in Söders Frankenland deutlich rigoroser, im Zuschauerraum wie im Orchestergraben. Dass im Festspielhaus aus hygienischen Gründen die Toiletten nicht benutzt werden dürfen, ist komisch. Dass aber der Chor nicht auf die Bühne darf, sondern aus einem Nebensaal zugespielt werden muss, ist sinnlos, da sich doch auf der Bühne reichlich viele Statisten tummeln, und es schadet der Musik. Ziemlich kurzatmig, was da aus den Lautsprechern tönt.
Info
Don Giovanni Regie: Romeo Castellucci, Musikalische Leitung: Teodor Currentzis Salzburger Festspiele
Der Fliegende Holländer Regie: Dmitri Tcherniakov, Musikalische Leitung: Oksana Lyniv Bayreuther Festspiele
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