So beginnen zur kalten Jahreszeit viele Opernaufführungen: Der Intendant betritt als Erster die Bühne, um sich dafür zu entschuldigen, dass einer Sängerin der Hals streikt. Schau an, diesmal sind alle gesund. Nicht kurzfristig umzubesetzen ist freilich der Kronleuchter, der nicht verlöschen will. An seine Sicherung wiederum gekoppelt sind alle Notausgangslichter. Man muss kein Opernfan sein, um sofort zu wissen, wo die Szene spielt. Es kann nur in Berlin sein, in der gerade um Jahre verspätet wiedereröffneten Staatsoper Unter den Linden.
Es bleibt also hell. Und ausnahmsweise ist das gut so. In jeder Hinsicht. Denn diese Oper und diese Produktion sind reine Erleuchtung. Im Sinne von Aufklärung: Eine 350 Jahre alte Satire auf alles, was uns groß, bloß nicht artig erscheinen mag. Erstens also auf die Politik. Zweitens auf die Liebe. Gier, Rache, Mord. Macht und Sex sind in dieser Oper und in dieser kongenialen Inszenierung eins. Staatsoper eben, in jeder Beziehung.
So geht das schon los: Nero vögelt Poppea. Der Hofstaat kriegt alles mit, zerreißt sich die Münder. Postkoitales Gezwitscher flattert auf zum ersten großen Duett. Bis 150 Jahre später Mozart den Don Giovanni schreiben wird, und kaum noch einmal danach, hat die Opernbühne so Unerhörtes nicht gehört. Anna Prohaska, aus der Berliner Staatsoper heraus zu internationalem Ruhm aufgestiegene Sopranistin, besitzt die Ausstrahlung und die musikalische Freiheit, das alles zu singen und zu spielen. Sie stellt als Figur ja nicht bloß die moralische Ordnung in Frage, sondern sprengt deshalb auch rhythmisch und harmonisch alle Regeln ihrer Kunst.
Giovanni Busenello, ein Star-Anwalt und führender Intellektueller der Lagunen-Republik, hat eines der literarisch besten Libretti der Operngeschichte geschrieben. Kein einziger dämlicher Satz. Pate stand gewiss auch Niccolò Machiavelli, der die Regeln der Machthaber bis auf den heutigen Tag gültig auf den Punkt brachte.
Ausgebuffter Schmachtfetzen
Die moralisch verwahrlosten Fürsten seiner Zeit hat Busenello parodiert, wohl auch das Papsttum. Auf der Bühne aber steht ein römischer Kaiser. Schon wegen der Zensur. Auch das ging so nur in einer Karnevalsoper. Aus ganz Europa kamen Adelige nach Venedig, um vor allem sexuell über die Stränge zu schlagen. Aufgeladen mit Erotik sind Handlung wie Musik.
Geschrieben hat sie – dieser Witz gehört dazu – ein katholischer Priester. Claudio Monteverdi, vierzig Jahre zuvor einer der Väter der Gattung Oper, ist 1647 längst ein Hochwürden, Domkapellmeister in Sankt Markus. Selbst für venezianische Verhältnisse ist sein letztes Werk ein Frontalangriff auf alles, was sich schickt.
Dirigent ist für die Leitung einer Barockoper keine angemessene Bezeichnung. Zu wenig ist überliefert. Er wählt die historischen Instrumente aus, bestimmt die Größe des Orchesters – in der Staatsoper ist es die prachtvoll aufspielende Akademie für Alte Musik Berlin –, hat eine eigene Fassung anzufertigen. Der erfreulich unakademische italienische Spezialist Diego Fasolis fügt zahlreiche Stücke anderer Barockkomponisten hinzu. Schon beim Original hatten dem alten Meister andere geholfen. Diese Musik klingt in unseren Ohren „moderner“ als romantischer Belcanto. Das gilt ganz besonders für den Schluss – der auch nicht von Monteverdi, sondern mutmaßlich von seinem Schüler Benedetto Ferrari stammt.
Dieses Duett ist einer der ausgebufftesten Schmachtfetzen der Operngeschichte. Ein Ohrwurm sondergleichen, herzzerreißend verlogen. „Ich bin dein, dein bin ich, ja, mein Liebster, ja, mein Herz, mein Leben ja.“ Poppea schmalzt im besten Eurovisionconteststil.„Ich umschlinge dich“: Dabei steht sie Meter entfernt von ihrem Nerone. Zu sehen ist bereits der erste Ehekrach, zu hören die Inbrunst trügerischer Liebe. Sie kann schon deshalb nicht rein sein, weil es Poppea von Anfang an nicht ums Herz des Imperators gegangen ist, sondern um den Thron. Das Stück heißt schließlich nicht „Die Hochzeit“, sondern L’Incoronazione – die Krönung – di Poppea.
Aber so ist das in der großen Oper: Die Musik erzählt meist eine ganz andere Wahrheit als das Libretto. Sie lügt, so wie die Figuren lügen. Nur schöner. Weil Musik keine Moral kennt. Ihre Kraft stellt sie der sexuellen Gier so bedingungslos zur Verfügung wie Gott Amor. Das Monster singt so betörend wie sein Opfer. Nichts ist so, wie es in der Musik zu sein scheint.
Nerone ist die erste männliche Hauptrolle der Operngeschichte, die von einem Kastraten (hier der Countertenor Max Emanuel Cencic) gesungen wird. Weshalb? Weil Nerone ein keineswegs geisteskranker, doch liebeskranker Mann ist, also der Schwächere in dieser Beziehung. Noch nicht einmal überdurchschnittlich grausam, nur grausam abhängig von Poppea.
In seiner Milde schickt er die Gattin Ottavia (auch sängerisch ebenbürtig: Katharina Kammerloher), die ihrer Rivalin Poppea nach dem Leben trachtet, auf eine Insel. Lug und Trug. Die historische Ottavia wurde dort ermordet. Da ist die Oper längst aus. Wir müssen das heute nachlesen; dem Premierenpublikum im barocken Venedig waren die antiken Hintergründe geläufig. Auch Ottone, der Gegenspieler Nerones (Xavier Sabata, wiederum ein Countertenor), ist kein Opfer, sondern Mörder.
Die historische Wahrheit geht so: Poppea hat sich über zwei frühere Ehen hochgeschlafen bis ins Bett des sechs Jahre jüngeren Kaisers Nero. Nach neun Jahren hat sie ihn so weit, dass er sie heiratet. Gut bekommen ist es ihr nicht. Sie starb, zum zweiten mal schwanger, von den Fußtritten des Kaisers, der 68 n. Chr. seinerseits zum Selbstmord gezwungen wurde und ersetzt von jenem Otho (Ottone), den er in der Oper in die Verbannung schickt.
Diese Oper kennt keinen Chor, aber annähernd zwei Dutzend Solisten. Und es sind gerade Nebenfiguren, die dem Stück Kraft geben. Zwei von ihnen werden im Textbuch als Ammen bezeichnet, auch wenn sie in Wahrheit so etwas wie Spindoktoren sind. Moralisch nicht weniger ambivalent als ihre Chefs. Einer dieser Ammen, zwischen Brust- und Kopfstimme burlesk oszillierend, verleiht die DDR-Sängerlegende Jochen Kowalski einen grandiosen Auftritt. Als Poppea endlich Kaiserin wird, lässt die andere Amme, die transvestitisch brillierende Arnalta (Mark Milhofer), ihr Triumphgeheul ertönen über all die Schmeichler, die sie nun umschwirren: „Als Dienerin geboren, sterbe ich als Herrin.“ Hier vermählen sich gesellschaftskritisch Commedia dell’Arte und Oper. Und das Spiel mit Geschlechteridentitäten ist der Oper ohnehin von jeher lustvoll immanent.
Das Bleiben der Leichen
In dieser zu Recht umjubelten Inszenierung der jungen Regisseurin Eva-Maria Höckmayr ist die Bühne nicht mehr als eine Rampe, die sich im Hintergrund zur Wand biegt, mal silbern schimmernd, mal golden, mal rot wie Blut, mal blau wie die Nacht. Die Farben wechseln wie die Affekte und Ekstasen der Figuren. Alle spielen drei Stunden lang pausenlos mit, niemand tritt auf, niemand ab. Selbst Seneca, dem vor der Pause schon das Blut aus dem Hals spritzt, ist als Leiche bis zum Schlussjubel präsent.
Er ist eine in der Operngeschichte einzigartige Figur. Ein tiefer Bass in einer Welt schriller Töne. Mit dem Fortgang der Geschichte hat er nichts zu tun. Er tut nur, was Philosophen eben zu tun pflegen: Er philosophiert das Blaue vom Himmel. Als Höfling ist auch er umstritten. Ein privilegierter Intellektueller, ein eitler Moralist und Schmarotzer. Franz-Josef Selig singt einen Mann, der erst im Sterben zum großen Stoiker wird – weil er doch von seiner Unsterblichkeit überzeugt ist. Schwärzer kann Satire nicht sein.
Tatsächlich wurde Seneca, der Nero „erzogen“ hatte, von dem zum Selbstmord gezwungen, als er in Verdacht geraten war, an einer Verschwörung beteiligt zu sein. Davon ist in der Oper keine Rede. Lediglich sein moralisierendes Geschwätz ist dem Tyrannen ein Gräuel. Man kann das verstehen. Denn sie wirken alle sehr „heutig“ auf dieser Bühne, selbst in Halskrausen und Reifröcken. Wenn es zur Sache geht, werfen sie ihre Prachtklamotten ab und stehen da wie wir.
Info
L’incoronazione di Poppea Regie: Eva-Maria Höckmayr Staatsoper Unter den Linden, Berlin
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