Das Salzburger Festival mit seinem Hochglanzpublikum mag einem zwischen Krieg, Klima- und sonstigen Krisen dekadent vorkommen. Diesen Verdacht widerlegt es, was die Kunst angeht, nicht nur durch manch herausragende Vorstellung, sondern als Ganzes, als Wurf. Das spürt, wer sich dem Geschehen in den drei Festspielhäusern einige Tage lang ganz und gar aussetzt. Das wiederum ist reiner Luxus, was sonst.
Die Neuproduktionen der ersten Woche kombinieren drei beziehungsweise zwei Operneinakter – fünf Opern an zwei Abenden. Die beiden Stücke der Eröffnungspremiere passen zusammen wie Feuer und Wasser. Herzog Blaubarts Burg von Béla Bartók ist ein tiefenpsychologisches Schauermärchen mit spätromantischem Klangzauber für zwei Stimmen. Carl Orffs
Stimmen. Carl Orffs De Temporum Fine Comoedia handelt vom Weltuntergang. Eine Hundertschaft bleicher Leiber bricht aus dem Bühnenboden der barocken Felsenreitschule. Drei Chöre skandieren, rappen, schreien mit martialischer Wucht. Bloß wozu ist der Jüngste Tag noch gut, da doch die Sonne bereits erloschen ist? Selbst Luzifer ist am Ende seines Lateins und bittet – „Pater! Peccavi!“ (Vater! Ich habe gesündigt!) – um Vergebung. Mit dem Ende der Zeit ist auch das Böse zu Ende und alle Schuld getilgt. Orff zitiert in seinem letzten Werk, einem aufwühlend wuchtig vertonten philosophischen Traktat, Weissagungen misanthropischer altgriechischer Sibyllen und tröstliche Hymnen frühchristlicher Eremiten.Regisseur und Bühnenbildner Roman Castellucci stürzt beide Stücke in tiefe Nacht. Nur ein paar Feuerlinien leuchten in Blaubarts Burg. Das Wort „Ich“ spiegelt sich auf dem wasserbedeckten Bühnenboden. Sieben Türen öffnen sich. Folterkammer, Waffenkammer, Schatzkammer, Garten, Landschaft, Tränensee und überall Blut. Hinter der siebten Tür sind Blaubarts Opfer gefangen. Aber im Dunkel sind sie nicht zu sehen. Alles nur Unbewusstes.Blaubart ist in dieser Inszenierung ein überraschend sanfter Mann mit ruhig strömendem Bass (Mika Kares), den Judith (Aušrinė Stundytė) seelisch, darstellerisch und stimmlich dominiert. Weil die beiden Stücke aneinandergekettet sind wie Blaubart und Judith, müssen die beiden am Jüngsten Tag von Carl Orff stumme Rollen als Adam und Eva spielen. Nicht alles, was nicht zu verstehen ist, ist auch von tieferer Bedeutung.Vorsicht, SternstundeUraufgeführt 1973 in Salzburg von Herbert von Karajan, entfacht heute Teodor Currentzis Orffs musikalisches Inferno. Das riesige Gustav Mahler Jugendorchester quillt mit Schlagzeug-, Trompeten- und Posaunenbatterien aus dem überfüllten Orchestergraben. Und selbst die drei Chöre werden zu markerschütternden Schlaginstrumenten. Neben dem Bachchor Salzburg und dem Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor brillieren vor allem der von Currentzis in Russland gegründete musicAeterna Chor und dessen Solisten.Weil seine Ensembles von Gazprom und einer Putin-nahen Bank finanziert werden, geriet der Grieche mit russischem Pass um ein Haar ans Ende seiner Zeit als absoluter Pultstar. Er weigerte sich, Putin offen zu verurteilen, verteidigte ihn aber auch nicht. Nur hilft auch ein Schweigen in diesen Zeiten nicht aus dem Dilemma heraus, in das der Dirigent geriet. Trotz heftiger Kritik hielten die Salzburger Festspiele und das Publikum zu ihm.Das markerschütternde Orff’sche Werk stößt ans Ende dessen, was Musiktheater überhaupt leisten kann. Reine Musik, das beweist Salzburg im direkten Vergleich, überwindet die Grenzen des theatralisch Darstellbaren. Auch über Anton Bruckners Abschiedssymphonie, der unvollendeten Neunten in d-moll, könnten die Worte De Temporum Fine stehen. Welch ungeheures spirituelles Brausen, Aufbäumen, Verzweifeln, bis endlich die Tuben friedlich verklingen! Mit dem Begriff Sternstunde sollte man vorsichtig sein. Aber an diesem Abend übertreffen sich die Wiener Philharmoniker, das Bruckner-Orchester schlechthin, unter Christian Thielemann selbst.Eine ganz große NachtmusikSie sitzen auch unter Franz Welser-Möst im Orchestergraben. Die drei Einakter Il Trittico haben nichts miteinander zu tun, nur hat sie alle drei Puccini komponiert und kombiniert. Sein Dreier bietet das komplette Spektrum dessen, was Oper emotional vermag. Der Komödie um einen tolldreisten Testamentsschwindler (Gianni Schicchi) folgt ein Eifersuchtsmord (Il Tabarro), Belcanto meets Film Noir. Schließlich die herzzerreißende Tragödie einer ins Kloster gezwungenen Frau, die den Tod ihres Kindes nicht verkraftet (Suor Angelica). Regisseur Christof Loy versucht gar nicht erst, eine Verbindung herzustellen. Er findet für jedes Stück eine eigene Bildsprache, das richtige Tempo, eine individuelle Personenführung der mehr als dreißig Solisten. Es ist ein Wechselbad der Gefühle: Was mit groteskem schwarzem Humor beginnt, endet mit der Seelenqual einer Selbstmörderin. Da bleibt kein Auge trocken vor den Standing Ovations. Mit dem selten und in Salzburg zum ersten Mal gespielten Operntrio aus dem Jahr 1918 (in dem auch Bartóks Blaubart uraufgeführt wurde), vertonte Puccini moderne, realistische, von romantischem Schmalz befreite Stoffe, jedoch mit Musik in der großen italienischen Operntradition eines Giuseppe Verdi. Ein bestechendes Erfolgsrezept.In allen drei Stücken, vor allem in den beiden tragischen, triumphiert Asmik Grigorian, die litauische Sopranistin, deren Weltkarriere vier Jahren als Salome just in Salzburg begann. Ihre Stimme ist nicht so groß und rund wie etwa die der Netrebko, doch faszinierend reich an darstellerischer Ausdruckskraft.Insgesamt wird in der Stadt, in der selbst die Spatzen Mozarts heitere Kleine Nachtmusik pfeifen, heuer eine ganz große Nachtmusik gegeben. Das passt in eine Zeit, in der so viele Wege ins Nichts führen und in der selbst das Salzburger Festspielpublikum moralische Antworten verlangt.Placeholder infobox-1