Das Land, der Film und die Nazis

Kollektive Sehnsüchte Peter Reichels kulturhistorische Studie "Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater"

schärft den kritischen Blick auf die heutige Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte

Angesichts der Welle von Filmen über die NS-Zeit, die vor einigen Monaten mit den bunten, aber nicht sonderlich einprägsamen Fernsehspielen zum 60jährigen Jubiläum des Attentats vom 20. Juli 1944 begann und mit dem erstaunlichen Kinoerfolg Der Untergang, fast fünf Millionen Besucher allein in Deutschland, einen Höhepunkt erreichte, hat das bemerkenswerte Buch des Hamburger Zeitgeschichtlers und Politologen Peter Reichel einen besonderen Sinn. Es weckt in Zeiten, die nicht gerade von historischem Bewusstsein strotzen und in denen fast jede neuerliche filmische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust als innovativ ausgegeben wird, Erinnerungen an frühere Versuche von Kino, Fernsehen und Theater, sich auf die Ungeheuerlichkeiten der jüngeren deutschen Geschichte einzulassen. Und es schärft damit gewiss auch den kritischen Blick auf den heutigen Umgang von Film-, Fernseh- und Theatermachern mit dieser Thematik.

Mit so manchen Klischeevorstellungen und Wissenslücken wird dabei aufgeräumt. So macht Reichels Rückblick deutlich, dass auch den (west)deutschen Film der fünfziger Jahre nicht nur Heimat- und Schlagerfilme ausmachten, sondern dass es eine Fülle ambitionierter, wenn auch sehr unterschiedlich gelungener Filme gab, die sich mit der gerade erst überwundenen NS-Zeit auseinander setzten. Selbst zum Wettstreit zwischen ARD und ZDF um den trefflicheren Film zum 20. Juli 1944 schildert Reichel eine Entsprechung aus dem Jahr 1954, als zwei Kinofilme der namhaften Regisseure G. W. Pabst und Falk Harnack zum zehnjährigen Jubiläum von Stauffenbergs Attentat in der damaligen BRD parallel entstanden.

Sicherlich erschütterte die amerikanische Fernsehserie Holocaust im Jahr 1979 ein breites Publikum besonders stark. Aber Das Tagebuch der Anne Frank mit seiner multimedialen Präsenz als Buch, Hollywoodfilm und Bühnenstück hatte schon Jahrzehnte früher kaum minder bewegt. Das Theater konnte in den sechziger Jahren mit Stücken wie Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth und Die Ermittlung von Peter Weiss die Debatte um die Schuld an der Ermordung der Juden neu entfachen. Reichel macht bei all diesen Beispielen den jeweils spezifischen zeitgeschichtlichen Kontext deutlich (das deutsch-israelische Verhältnis und die Wiedergutmachungspolitik in den fünfziger Jahren, den Eichmann- und den Auschwitz-Prozess in den sechziger Jahren) und verweist auch auf die unmittelbare politische Wirkung vieler dieser medialen Ereignisse. Ohne die anhaltende öffentliche Diskussion des amerikanischen Holocaust-Melodrams, meint er, wäre ein paar Monate später im Bundestag die 30-jährige Verjährungsfrist für Mordtaten nicht aufgehoben wurden.

Doch Reichels Untersuchung, die sich mit seinen Arbeiten Der schöne Schein des Dritten Reichs und Politik mit der Erinnerung zu einer bemerkenswerten Buchtrilogie über die Ästhetik der NS-Propaganda und die öffentliche Erinnerung an die Nazidiktatur und ihre Verbrechen rundet, bleibt nicht in der bloß kulturhistorisch und -soziologisch orientierenden Beschreibung stecken. Es gelingt ihm immer wieder, an signifikanten Beispielen aufzuzeigen, wie Theater und Film die Wirklichkeit kollektiven Sehnsüchten entsprechend umbogen, mit genehmeren Erinnerungsbildern überlagerten und gar nachhaltige Mythen stifteten - wie den der ehrbaren und sich aufopfernden Wehrmacht im Gegensatz zur verbrecherischen NS-Führung, von Carl Zuckmayers Erfolgsstück Des Teufels General bis zu Frank Wisbars Stalingrad-Film Hunde, wollt ihr ewig leben. Reichel zeigt aber auch, dass solcherart verkrustete Erinnerungsbilder gerade durch Theater und Film immer wieder in Frage gestellt und aufgebrochen wurden. Dabei gerät ihm keineswegs außer Sicht, dass solch fiktive Erinnerungsbilder zwar auch Fragwürdigkeiten mit sich bringen (wie die Melodramatisierung in der Holocaust-Soap), aber Geschichte doch erst emotional erfahrbar machen.

Kenner der Film- und Theatergeschichte mögen sich bei Reichels Auswahl von Beispielen über manche Lücken wundern. Weder von G. W. Pabsts heftig umstrittenen Film Der letzte Akt von 1955, in dem Hitlers Untergang schon trefflich und desillusionierend gezeigt wurde, ist die Rede, noch von Egon Monks vielbeachtetem KZ-Film Ein Tag. Auch viele in diesem Zusammenhang wichtige Dramen, ob von Brecht, Becher oder Kipphardt, von Walser oder Tabori, spielen bei Reichel keine Rolle. Selbst Max Frischs vertracktes Parabel-Stück Andorra, über viele Jahre die maßgebliche Vorlage zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, wird nur am Rande erwähnt. Wichtiger scheint es Reichel, den Blick auch auf Zusammenhänge zu lenken, die hier nicht gleich nahe scheinen (am Beispiel des Skandals um Fassbinders Stück Die Stadt, der Müll und der Tod), und zudem über die deutsch-deutsche Film- und Theaterwelt hinaus auf ausländische Werke, die das aktuelle Geschichtsbild prägten. Die Anschaulichkeit von Reichels Analysen regt ohnehin zu eigenen Erkundungen auf diesem so aufschlussreichen kulturhistorischen Feld an, auf dem es auch um die heutige deutsche Identität geht.

Peter Reichel: Erfundene Erinnerung - Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater. Hanser, München und Wien 2004, 374 S., 24,90 EUR


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