Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass ein schmales Bändchen von gerade einmal 140 Seiten der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert mit ihren gewaltigen Umstürzen und Katastrophen nur bedingt gerecht werden kann, schon gar nicht en détail. Dennoch verrblüfft Patrik Ouredniks europeana den Leser geradezu mit einer Fülle von Einzelheiten, denen man selbst in ungleich umfangreicheren Geschichtswälzern nicht begegnet.
Der tschechische Autor, Jahrgang 1957, der 1985 nach Paris emigrierte, seither dort als Literaturdozent und Redakteur tätig ist und mit unterschiedlichsten Publikationen hervortrat, mit Gedichtsammlungen und Prosa ebenso wie mit eigenwilligen lexikalischen Werken, scheut sich nicht, die als wichtig verbürgte Historie mit den trivials
mit den trivialsten Geschehnissen, den abgeschmacktesten Anekdoten und den unsäglichsten Vergleichen zu illuminieren. Da rechnet er etwa aus, dass die 1944 in der Normandie gefallenen Amerikaner bei einer Durchschnittsgröße von 173 Zentimetern hintereinander gelegt eine Strecke von 38 Kilometern ergeben hätten, springt von der Erfindung der Antibabypille zur Barbiepuppe in der KZ-Kluft, von den Versprechungen der Scientologen zu den Erektionsproblemen heutiger Männer oder verstört mit einem Überblick zu den verschiedensten gesetzlichen Regelungen der Sterilisierung von Kriminellen, Behinderten oder Aussenseitern. Unerbittlich fügt Ourednik, dieser illusionslose Moralist, zu jeder Ungeheuerlichkeit noch eine Abstrusität, erklärt etwa, warum die Kommunisten den Kaugummi ebenso fürchteten wie die Psychoanalyse oder wie die Darstellung der Sexualität sich wandelte bis sie im Telefonsex unsichtbar wurde. Man liest alsbald fast atemlos in dieser Chronik und wähnt sich in einem immer schneller rotierenden Karussell durch das noch so nahe Säkulum, das wie in einem bunten Kaleidoskop unentwegt zerfällt und sich zu immer neuen Bildsequenzen zusammensetzt.Klar, die überraschenden Erzählsprünge, all die kunstvollen und stets aufs neue erstaunlichen Verschachtelungen von Haupt- und Staatsaktionen mit vermeintlich nebensächlichen oder völlig unwichtigen Ereignissen, die unentwegte Verlinkung des Großen mit dem Kleinen, des Erhabenen mit dem Trivialen, diese ganze komplexe, auch mit naiven Wendungen jonglierende und geradezu anachronistisch anmutende Sichtweise hat ersichtlich Methode. Bezeichnenderweise ziert den Einband (zumindest der deutschsprachigen Ausgabe) die Collage Der Kunstkritiker von Raoul Hausmann, dem Mitbegründer der Dada-Bewegung in Berlin. Das könnte auch ein Porträt des verzweifelten, von seiner Zeit malträtierten und entstellten - und sie dennoch intellektuell zu fassen trachtenden Chronisten sein. Als "bürgerlicher Bluff" wird der Rationalismus in einem Dada-Manifest bezeichnet, und Ourednik macht in seinem grotesken Unterfangen, das 20. Jahrhundert wie ein wild gewordener mittelalterlicher Chronist nachzuerzählen, einfach die schrecklichsten und merkwürdigsten Ereignisse unterschiedlichster Dimension aneinander zu reihen oder assoziativ zu verbinden, schmerzhaft deutlich, dass dem Panorama dieses Jahrhunderts, dieser Totalität des Grauens samt der bizarrsten, auch komischen Details mit einer bloß positivistischen Beschreibung, auch mit dem Verstand und der Vernunft allein nicht beizukommen ist. Insofern wird Ouredniks durchgehend faszinierende, gelegentlich gar schockierende, neben schrillsten, aber auch poetische Töne anschlagende Collage des Jahrhunderts zum Korrektiv jeglichen Versuchs, den Blick auf die Geschichte allzu übereilt einordnenden, systematisierenden und interpretierenden Vorgaben unterzuordnen.Entsprechend konsequent ist die Absage dieses unerbittlichen Skeptikers an jede ideologische Verbrämung der Wirklichkeit und auch jede Spekulation zur Zukunft. Neuerliche Visionen und Heilsversprechen kommen für einen tschechischen Emigranten, dessen mitteleuropäische Heimat von den Schrecknissen des 20. Jahrhunderts besonders gebeutelt wurde, ohnehin nicht in Frage. Auch der mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums aufgekommenen These vom Ende der Geschichte erteilt er mit einer lakonischen und zutreffenden Feststellung die Abfuhr: "Aber viele Leute kannten diese Theorie nicht und machten weiter Geschichte, als ob nichts gewesen wäre." Einmal mehr mag der Leser bei diesem letzten Satz des Buchs an Ouredniks legendären Landsmann Schwejk denken - und das zurecht, denn Jaroslv Has?eks keineswegs nur naiver, sondern auch verschmitzter und sogar zynischer Antiheld ist durchaus mit dabei auf dieser ebenso verrückten wie erhellenden Kreuzfahrt durch das letzte Jahrhundert. Dass sein unerbittlicher Witz auch den verqueren Historiker Ourednik inspirierte, trägt durchaus zum erheblichen Lesevergnügen bei.Patrik Ourednik: europeana. Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert. Aus dem Tschechischen von Michael Stavaric. Czernin, Wien 2003,143 S., 19 EUR