Die unendliche Debatte

HAUPTSTADTWERDUNG Zum Streit um die Berliner Mitte

In der Mitte der Hauptstadt regiert Ratlosigkeit. Die Tage der knallgelb im Wind flatternden Schloßkulisse sind lange vorbei. Auch wenn inzwischen der Kanzler als Interimsgast in das ehemalige Staatsratsgebäude gezogen ist, hat sich die leere Fläche des Schloßplatzes noch nicht wieder belebt. Nur am Palast der Republik haben die Arbeiten zur Asbestsanierung begonnen. Bis Ende 2000 sollen sie ein Stadium erreicht haben, das endgültige Entscheidungen zum Schicksal des umstrittenen Baudenkmals unausweichlich macht. Spätestens dann also müssen die Akteure, allen voran die Politiker, Farbe bekennen: Was soll mit dem Gebäude, mit dem Platz mit der Mitte der Mitte konkret geschehen? Wird die Demokratie sich noch einmal als Bauherrin bewähren? Oder wird das »Herz der Hauptstadt« privatem Management anvertraut? Wird um-, neu- oder »auf alt« gebaut? Sind wir überhaupt schon so weit, diese Frage ohne Gewissensbisse zu entscheiden?

Der Streit um die Mitte der Mitte Berlins dauert nun schon acht Jahre. Er begann, als das betreffende Areal noch Marx-Engels-Platz hieß. Irgendwann hat der Senat in aller Stille die Fläche umgetauft, so daß fortan bereits in der Nennung des Ortes der Konflikt anklingt: Schloßplatz heißt es heute, wie es niemals zuvor geheißen hat, aber in der Berliner Bilderversessenheit setzt man immer wieder gern auf solcherlei Wortezauber - vielleicht wird ja tatsächlich eines Tages handfeste Realität, was jetzt aufzurufen man nicht müde wird.

Achtjährige Konfrontation macht mürbe. Irgendwann ist alles gesagt: Zentraler Ort der Stadt, kulturelle Identität des Ostens, Asbest. Umbau oder Abriß des Palastes, Restitution des Hohenzollernschlosses oder Neubau in modernen Formen. Die Kräfte der Kontrahenten sind erschöpft, ihre Haut ist dünn geworden unter dem Trommelfeuer der gegenseitigen Zumutungen, denn die Debatte hat ausgesprochen häßliche Züge angenommen. Sie ist zum ausweglosesten Streit in dieser Stadt geworden, in der es als politisch korrekt gilt, vom »ehemaligen Osten« und vom »ehemaligen Westen« zu sprechen, als ließen sich so nicht nur Himmelsrichtungen außer Kraft setzen, sondern auch die realen Konflikte der Wiedervereinigung aus dem öffentlichen Raum der Stadt scheuchen. Um jene Konflikte geht es aber, wenn hier von einer »häßlichen Debatte« die Rede ist.

In diesem Streit ist es nie um das Aushandeln von Kompromissen gegangen, sondern stets nur um »Alles oder Nichts«. Diese Verbissenheit gilt für beide Seiten. So haben zwei der drei Bürgerinitiativen zur Rettung des Palastes der Republik an das Objekt ihres Engagements bisher kaum mehr Kreativität verschwendet, als die Wiedereröffnung ihres »Volkshauses« zu fordern, und zwar möglichst unverändert in der Art, wie sie es zu DDR-Zeiten liebgewonnen hatten. Daß sich manch Baudenkmal heute oft nur bei äußerst phantasievoller Umnutzung retten läßt, ficht ihren nostalgischen Fundamentalismus nicht an. Auf der anderen Seite haben die Gegner des Palastes nie ihre feste Entschlossenheit verhehlt, sämtliche Expertenhearings und Bürgerversammlungen der Palastbefürworter schlicht zu ignorieren. Die stoische Art etwa, in der Berliner Spitzenpolitiker unentwegt einen sanierungsbedingten »Rückbau bis auf Zahnstocher« vorhersagten, machte die mangelnde Konsenslust mehr als deutlich: Selbst nachdem anderslautende Gutachten öffentlich präsentiert wurden, hielt der Senat an der Maximalvariante in Sachen Asbestsanierung fest.

Am Ende stehen sich nun beide Lager wortlos gegenüber wie in einer altvertrauten Streitbeziehung: Ich weiß, daß Du auf meine Argumente nicht hören willst, und Du weißt, daß ich das weiß. Seit die Situation diesen Stand erreicht hat, ist der Konflikt nur noch per ordre de Mufti, also hegemonial zu lösen, und das bedeutet, einer Seite eine Niederlage zu bereiten. Keine Frage, welche »ehemalige Himmelsrichtung« hier den kürzeren ziehen wird. Dieses politische Dilemma ist unvermeidbar, schließlich sind wir in Berlin. Da taugt auch das teuflischste Asbest nicht als Ausrede.

Wenn die Emotionen aller Beteiligten dermaßen emporschießen, wenn die Fronten sich in Ideologiegefechten verhärten - dann muß es um eine Sache gehen, die mehr als die Heilung des Stadtbildes oder die Erfüllung irgendwelcher Funktionsbedürfnisse zum Ziele hat. Dann ist zu vermuten, daß sich an diesem Ort, den alle einen »besonderen« nennen, Ansprüche und Erwartungen bündeln, die auf keinen Fall pragmatische, sondern eher symbolträchtige Ausformungen erzwingen. Sind die Deutschen wirklich entschlossen, auf diesem Platz sich selber zu finden?

»Die Leere der Spreeinsel ist eine steinerne Mahnung, daß es das verwaltungstechnisch verschnürte Deutschland in zehn Jahren nicht geschafft hat, die Einheit zu vollenden. Dem deutschen Haus fehlt bis auf weiteres ein gemeinsames Dach«, war unlängst in einem Essay des Berliner Architekturkritikers Hans Wolfgang Hoffmann in der taz zu lesen.

Selbst die Jüngeren scheinen also beim Anblick dieses Ortes zu erschauern. Den Älteren war der Diskurs sogar ein hochkarätiges Symposium wert: »Schloß. Palast. Haus Vaterland« hieß eine sechsteilige Vortragsreihe der Senatsbaudirektorin Barbara Jakubeit im Jahr 1997, in der nationale und europäische Koryphäen von Geist und Kultur, von Architektur und Denkmalkunde über den rechten Umgang mit steingewordener Geschichte referierten: Nach dem »Wesen des Originals in der Kunst« wurde gefragt, nach dem Wert des »Patrimoniums«, und ob das Rekonstruieren komplett verschwundener Bauwerke, zumal in Deutschland, überhaupt erlaubt sei.

Diese Veranstaltungsreihe war in all den langen Jahren wohl der seriöseste Versuch, die Substanz des Konflikts intellektuell zu umreißen und, je nach individueller Position, Auswege zu empfehlen: Worauf gründet kulturelle Identität? Was bedeutet Geschichte? Läßt sie sich - etwa in Gestalt eines verlorenen Schlosses - zurückrufen? Ist denn nicht auch die jüngste (und derzeit ungeliebte) zurückliegende Epoche »Geschichte«? Schreibt aktuelle Architektur nicht das »Heute« in die Geschichtsbücher unserer Nachkommen ein? Das Buch mit den Tagungsreden erschien, doch auf den Gang der Dinge in der Berliner Wirklichkeit hat es keinerlei Einfluß genommen. Eine der beiden Herausgeberinnen war Monate später selbst mit dem Investorenbewerbungsverfahren für den Schloßplatz befaßt (welches dann auch wieder im Sande verlief).

Aber ist nicht längst in Kraft, worauf alle so sehnsüchtig warten? Steht nicht in der »Mitte der Mitte von Berlin« das Symbol, dessen die Nation so dringlich bedarf? Hoffmanns Lesart von der »steinernen Mahnung« macht hellhörig: Wo steht denn geschrieben, daß die Signale, die aus dem Herzen der Hauptstadt in alle Welt funken, ausschließlich von Ruhm künden müssen? Redlich betrachtet, gibt es für die so häufig beklagte »Mauer in den Köpfen« in diesem allzu hastig vereinigten Land weit und breit kein beredteres Zeugnis als den seit acht Jahren leergeräumten, inzwischen auch äußerlich jammervoll verstaubten und von Graffitti verunzierten »Palast«. Auch daß man ihn jetzt auf Abriß saniert, ohne genau zu wissen, was von ihm übrigbleibt und wie mit den Resten umgegangen werden soll, bezeugt nichts als übliche Berliner Stadtpolitik. Gleiches gilt für den mangelnden Mut der entscheidungsbefugten Westler, den Ostberlinern geradewegs ins Gesicht zu sagen, daß man das gläserne Monstrum einfach seiner »Ostigkeit« wegen weghaben will. Selbst noch das allmähliche Verstummen der öffentlichen Debatte hat Signalcharakter, es beschreibt einerseits die Machtverhältnisse, andererseits die Ermüdungserscheinungen einer Stadt, die sich im Dauerstreß irgendwie eingerichtet hat.

So ist die Lage. Wer traut sich da ehrlichen Herzens, Monumente nationaler Eintracht zu setzen?

Auch die DDR hat 22 Jahre gebraucht, bis sie an die Stelle der geschleiften »preußischen Zwingburg« ihre eigene Version von Staatsmitte zu setzen wagte. Zur Baureife verhalf endlich die Idee, den Ort von der rein politischen zur tatsächlich gesellschaftlichen Mitte zu erheben, also den Volkskammersaal gewissermaßen zur Untermiete in das - vom Volumen her deutlich größere - »Haus des Volkes« mit seinen diversen Freizeit-, Versammlungs- und Vergnügungsfunktionen zu geben (mit der Folge, daß im Frühjahr 1990 die DDR-Volkskammer weltweit das einzige Parlament war, in dessen Keller - im vormaligen Jugendclub - ganz offiziell ein Striptease-Lokal betrieben wurde). Erst mit dieser gesellschaftspolitisch mehrheitsfähigen Neuformulierung der »Mitte« ließ sich auf dem Platz des feudalen Schlosses die völlig andersartige Gegenwart mit ruhigem Gewissen feiern. Eine solche, durch eigene Biographie erwirkte Absolution gegenüber dem altvorderen Genius loci können Passanten aus dem Westen natürlich nur schwer nachfühlen.

Doch überhaupt scheint heutigentags die Bereitschaft, sich auf langwierige gesellschaftliche Reifeprozesse einzulassen, nicht sehr ausgeprägt. »Die alte Bundesrepublik wollte nie mehr sein als die Summe ihrer Bürger. Vielfalt, nicht Einheit, war wichtig. Zentrum war nach westlichem Verständnis der Einzelne«, schreibt hierzu H.W. Hoffmann, und anhand der bislang vorliegenden Nutzungsalternativen sieht er in diesem sehr differenten Gesellschaftsbegriff ein Handicap: »Alle Vorschläge, mit denen man das Luftschloß zu füllen trachtet - Bibliothek, Tagungszentrum, Hotel etc. - unterbieten die gesellschaftliche Relevanz, die der Palast der Republik einst hatte. Auch fehlt dem Förderverein und den Sponsoren in Gestalt deutscher Großkonzerne die demokratische Legitimation, die für ein solches Vorhaben unabdingbar ist. Solange nicht das Volk hier - wie etwa bei der Dresdner Frauenkirche - selbst die Bauherrenschaft übernimmt, kann den Bau letztlich nur einer organisieren: der Staat.«

Für den Hinweis auf das Dresdener Beispiel muß man H. W. Hoffmann danken, denn es gibt derzeit in Deutschland wohl kein anderes Bauvorhaben, das in emotionaler wie stadtpolitischer Hinsicht dem Berliner Schloß-Palast-Streit näher kommt. Auch wenn man aus geschichtsmoralischen und/oder denkmalsprinzipiellen Gründen gegen den Wiederaufbau der 1945 bis auf die Grundmauern zerstörten Frauenkirche ist, so kann man sich doch der enormen bürgerschaftlichen Kraftanstrengung nicht verschließen, mit der hier ein umstrittenes Unternehmen ohne ökonomischen Nutzen, nur aus lokalpatriotischer Begeisterung in Gang gesetzt wurde. Der Streit zwischen Gegnern und Befürwortern ist Teil des Projektes, genauso wie sein immer noch offener Ausgang. Dieses allen Realitätssinn überschreitende Vorhaben wird eben nicht als vollendete Tatsache einfach hingestellt, sondern es muß erstritten, ertrotzt und unter Opfern ermöglicht werden, die jeder nach eigenem Ermessen erbringen kann. Und wenn es auf halber Höhe steckenbleibt, weil sich die Mehrheitsmeinung ändert oder die Pleite durch keinerlei Zuschuß mehr zu verhindern ist, dann ist das immer noch in Ordnung und tut dem grundsätzlichen Wert dieser großen kollektiven Anstrengung keinen Abbruch. Das »Projekt Frauenkirche« verkörpert das andere Modell: Hier wird die Lösung des Problems nicht zu einem Kompromißresultat unter Investitions- und Entscheidungseliten, sondern zur Sache aller.

So, wie die Dinge in Berlin jetzt laufen, bedeutet die Suche nach dem schlüsselfertigen Projekt den Tod aller Signifikanz. Eine nachgeahmte Schloßfassade würde die Peinlichkeit einer Verlegenheitsnutzung an diesem einmaligen Ort nur noch unterstreichen. Kein Hotel, keine Shopping-Arkade, keine eindimensionale Kongreßmaschine! Was der Platz braucht, welche Initiativen hier dauerhaft zum Zuge kommen können, würde sich am besten zeigen, indem man Initiativen zuläßt. »Macht den Palast auf!« - die Parole der gleichnamigen Bürgerinitiative meint nicht die Restitution eines mit der DDR untergegangenen, unwiederholbaren Gesellschaftsetablissements, sondern die Neugier, die dem Ort praktische Chancen auf Unvorhersehbares einräumte. Bei dem benachbarten Staatsratsgebäude hat es dank der Stadtforums-Debatten solch überraschende Verwandlung vom Abrißkandidaten zum populären Bürgerhaus schon einmal gegeben - ein glückliches Schicksal, das kein Denkmalpfleger vorab in seine Konzeption hätte schreiben können.

Wer da nicht abwarten kann, wird in die Annalen der Nachwelt nicht als »Sieger der Geschichte«, sondern als ignoranter Plattmacher eingehen. Wie Walter Ulbricht, der die Einsprüche kulturbesorgter Zeitgenossen in den Wind schlug, die Schloßruine nicht auf bessere Zeiten hin sichern, sondern nach einsamem Entschluß sprengen ließ und dann bis zum Ende seiner politischen Laufbahn von einer mickrigen Sperrholztribüne aus düsteren Paraden zuwinkte.

Barbara Jakubeit, Barbara Hoidn (Hrsg.), Schloß. Palast. Haus Vaterland. Gedanken zu Form, Inhalt und Geist von Wiederaufbau und Neugestaltung. Berlin, Basel, Boston (Birkhäuser Verlag) 1998

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