Reichlich zwanzig Jahre hat es gedauert, bis die alte Bundesrepublik zu ihrem letzten Repräsentativbau kam. Im Oktober 1992, zwei Jahre nach der deutschen Vereinigung, wurde in Bonn der neue Plenarsaal des Bundestages seiner Bestimmung übergeben. Doch während am Rheinufer die geladenen Gäste den Einweihungsreden lauschten, liefen in Berlin die Vorplanungen für den neuen Regierungssitz einer - neuen? - Republik schon auf vollen Touren. Welch bemerkenswerte Gleichzeitigkeit! Als Günter Behnisch endlich den Triumph seiner Idee vom »demokratischen Bauen« feiern darf, und während das deutsche Feuilleton sich in einstimmiger Begeisterung für die »Leichtigkeit und Transparenz« als Ausdruck für die zivile Heiterkeit der deutschen Demokratie ergeht, hat Axel Schultes seine Entwurfszeichnungen für den Ablösebau bereits fertig - für den schroffen Riegel quer über den Spreebogen hinweg, die »Apparatefestung«, die am Ende den Berliner Wettbewerb gewinnen wird.
Zwei gegensätzlichere Architekturkonzepte als das von Günter Behnisch für Bonn und jenes von Axel Schultes für Berlin lassen sich kaum vorstellen. Daß beide einander zeitlich so direkt berühren, und zwar an Bauaufgaben nahezu identischer Bedeutsamkeit, ist dem Zufallsgang der historischen Ereignisse geschuldet. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, läßt die Konfrontation der so unterschiedlichen Konzepte, genauer: ihre gleichrangige Akzeptanz in der Öffentlichkeit, Rückschlüsse auf ein gewandeltes Selbstverständnis der bundesdeutschen Gesellschaft zu. Behnisch und Schultes treten nämlich nicht als Protagonisten zweier konkurrierender ästhetischer Moden auf, sondern sie verkörpern mit ihrem Gesamtschaffen deutlich unterscheidbare kulturelle Prägungen. Wie in den Medien (die maßgebliche Fachkritik ausdrücklich eingeschlossen) erst Behnischs Glaskubus im filigranen Gittergerüst, und nur wenige Wochen später mit gleicher Emphase Schultes' pathetischer Betonriegel gefeiert werden konnte, hätte eigentlich befremden müssen.
Die gesellschaftspolitischen Debatten der frühen neunziger Jahre standen unverkennbar im Zeichen einer zunehmend hektischen Selbstvergewisserung. Unter dem Schock der unerwartet doch Realität gewordenen deutschen Einheit suchten viele westdeutsche Intellektuelle nach Beweisgründen einer »unauflösbaren Westbindung« der Bundesrepublik. Im Kontext solcher Bestrebungen bot auch der neue Plenarsaal willkommenen Anlaß, geradezu verklärende Blicke auf die zurückliegende Geschichte der Bonner Republik zu werfen. Günter Behnischs provozierende, weil absichtlich improvisiert wirkende Architektur, die in ihrer Absage an alle traditionellen Typologien und Statusformeln ansonsten als eher wenig mehrheitsfähig gilt, avancierte plötzlich zum baulichen Sinnbild der »bewährten demokratischen Traditionen der alten Bundesrepublik«.
Dabei wurde die darzustellende Funktion des Parlaments zumeist auf den eher staatstheoretischen Grundsatz »Durchsichtigkeit der Entscheidungsprozesse« reduziert, was in die populär verkürzte Formel mündete: »Gläserne Fassade gleich Transparenz der Politik«.
Behnisch selbst hatte diesem allzu leichtfertigen Gebrauch der Glas-Metapher durch eigene Auskünfte durchaus Vorschub geleistet, etwa wenn er forderte, daß »das, was drinnen passiert, offensichtlich für die sein (muß), die später das fertige Produkt sehen. Es kann nicht so sein, daß man den Eindruck hat, da walten geheimnisvolle Mächte. Das hat möglicherweise etwas mit Hineinsehen zu tun, aber mehr noch damit, daß man sieht, das ist da und das ist dort.«
Günter Behnisch (Jahrgang 1922) denkt in politischen Kategorien, auch wenn er entwerferische Prozesse, Ästhetisches also, beschreibt: »Wir versuchen, Architektur über die Art und Weise, wie wir miteinander und mit der Welt umgehen.«
Mit seiner Skepsis gegenüber Hierarchien, seiner sozialen Moral, seinem Vertrauen auf die erzieherische Kraft sinnvoll geordneter Funktionen, seiner Geringschätzung gegenüber verfestigten Bildern und seiner Hoffnung auf die Stärke analytischer Vernunft bekennt sich Günter Behnisch als konsequenter Vertreter der Moderne. In den sechziger Jahren, jenem optimistischen Jahrzehnt, da die Architektur »den Menschen wieder Orte der Begegnung und Räume politischen Handelns zur Verfügung stellte«, machte er vor allem mit innovativen Schulbauten von sich reden. Mit seinen Münchener Olympiazelten von 1972 fand er (gemeinsam mit Frei Otto) für das zu Wohlstand gelangte und einigermaßen heiter in die Zukunft blickende Land ein weltweit staunend registriertes Zeichen. Daß er bald darauf, mit anfangs aus Kreisformen locker gruppierten Gebäudekomplexen, auch bei den Planungen für ein neues Bonner Parlament zum Zuge kommen sollte, durfte nach solchen Erfolgen eigentlich kaum verwundern. In seiner Architektur - und das hieß ja unvermeidlich auch: in der darin manifestierten Haltung - fand sich das mehrheitliche Selbstbild der Bundesrepublik jener Zeit aufs Sinnfälligste gespiegelt.
Aus heutiger Sicht überraschen muß allerdings, daß sich ein solch hierarchieverachtendes Konzept für den Plenarsaal über sämtliche Umarbeitungsphasen hinweg zwei Jahrzehnte lang durchhalten ließ. Neigte sich doch schon bald nach den »fröhlichen Spielen« von München die Zeit der Unbeschwertheit ihrem Ende zu: Im »Deutschen Herbst« ging die aufklärerische Revolte der Achtundsechziger unter, und es war eben dieses Jahr 1977, in dem auch Günter Behnisch seine vielleicht schwerwiegendste Niederlage erlitt: Im Wettbewerb um die Stuttgarter Staatsgalerie unterlag er James Stirling. Aus dem daraufhin landesweit entbrannten Architekturstreit gingen die Anhänger der Postmoderne als die neuen Meinungsführer hervor.
Daß der unbelehrbare Modernist trotzdem seine Bonner Planungen weiter verfolgen konnte, lag wohl nicht zuletzt am geringen Interesse, das die Öffentlichkeit generell den baulichen Vorgängen in der »rheinischen Residenz« entgegenbrachte (und ganz sicher auch an der hartnäckigen Solidarität einiger Sympathisanten im Umfeld des Auftraggebers). Als der Bau schließlich übergeben wurde, stand er als irritierender Solitär in einer Landschaft, die längst von ganz anderen Debatten umgepflügt und neu bestellt worden war. Mit seiner dekonstruktivistischen Attitüde lag er durchaus im modischen Trend, und doch war er, was sein vergegenständlichtes Ideal betraf, irgendwie übriggeblieben: ein Relikt aus Zeiten, da die Bundesrepublik sich noch als »Projekt« begriff und ihre Vorläufigkeit zum permanenten Experimentieren einlud. Anstatt, wie erhofft, jene große gesellschaftliche Neugier mit einem architektonischen Zeichen zu krönen, hat Behnisch nun mit seinem Parlamentsbau dem »Projekt« ein Denkmal gesetzt.
Mit der Entscheidung vom Juni 1991, den Regierungssitz wieder an die Spree zu verlagern, wurde dieser »Konsens der Bescheidenheit« aufgekündigt: »Der Umzug (...) von Bonn nach Berlin fällt mit einer häufig ÂNormalisierung genannten Zeitenwende der Bundesrepublik zusammen. Der nun einheitliche deutsche Staat (...) besitzt heute eine uneingeschränkte Souveränität und tritt mittlerweile ungeniert als europäische Macht auf. Damit ist die Grundlage für das Programm entfallen, das Städtebau und Architektur der Bonner Republik zu erfüllen hatten: eine Haltung der Nüchternheit, des peniblen Verzichts auf jede Geste des Pathos und der nationalen Größe.« (Max Welch Guerra.) Nicht zuletzt der Siegerentwurf für den Spreebogen, das als stadträumlich beherrschende Geste inszenierte »Band des Bundes« von Axel Schultes und Charlotte Frank, hatte erwiesen, daß Signifikanz und schiere Größe, ja sogar Pathos, jetzt durchaus wieder erwünscht waren.
Es grenzt schon beinahe an ein Wunder, daß aus den 835 Arbeiten des Spreebogen-Wettbewerbs diese eine mit solcher Entschiedenheit ausgewählt wurde. Ohne einen Augenblick des Zögerns stellten sich sowohl die breite Öffentlichkeit wie auch die Fachkritik geschlossen hinter den Juryspruch. Dabei kam der Entwurf von Axel Schultes und Charlotte Frank in überaus strenger, ja herausfordernder Gestik daher: Mit schroffen und abweisend wirkenden Betonwänden wollten die Architekten »ÂDem Deutschen Volke Staat zeigen«, wie Axel Schultes betonte. Doch die Zustimmung der Betrachter galt vermutlich weniger der präsentierten Architektur, als dem so lapidar wie emblematisch formulierten politischen Bild. »Der Bund als das Verbindende«, hatte Schultes seinen prägnanten Ost-West-Riegel quer über den ehemaligen Mauerstreifen hinweg umschrieben. Auf das kostbare Tiergartengelände sollte nur das Notwendigste gesetzt werden, die »Apparatefestung« also, und die hatten die Architekten streng zu zügeln versprochen: einhundert Meter Breite unwiderruflich, und bis an die Außenwand Zutritt für Jedermann! Zusätzlich hatten Schultes und Frank das geläufige Repertoire der zentralen politischen Institutionen (Parlament, Bundesrat und Kanzleramt) um ein neues, stadträumliches Element erweitert: das »Bundesforum«. Als irreversible Zäsur definierten sie zwischen Parlaments- und Regierungsflügel einen Ort für die Bürger - mit U-Bahn-Zugängen, Läden, Cafés und Galerien unzweideutig besetzt.
Genau jene Idee einer demonstrativen Verschränkung (nicht Vermischung!) von Staatsterrain und Bürgeröffentlichkeit dürfte es vor allem gewesen sein, der selbst potentielle Kritiker für den Schultes/-Frank-Entwurf gewann. War darin doch ein überaus verständliches Bild gefunden für das Recht des »gemeinen Volkes«, seinen Regierenden »auf Augenhöhe« zu begegnen. Hier war, außerhalb parlamentarischer Usancen, republikanischen Verhältnissen ein lebendig urbaner Alltag in Aussicht gestellt.
Schultes allerdings gab sich mit einer solch alltagspraktischen Erwartung demokratiewürdiger Verhältnisse nicht zufrieden. Um seinem »Bundesforum« Bedeutung zu verleihen, bemühte er Peter Sloterdijk: »Ein ÂKraftort der GesellschaftÂ, ein Garten der Lust oder der Wahrheit, ein Platz für Solidarität und Protest, ein ÂGesellschaftsobservatorium für geländegängige Individuen, die sich dort von der Krankheit des Deutschseins kurieren können«.
Sloterdijk ist ein Stichwortgeber so ganz nach Schultes' Geschmack: Virtuose Metaphern und ein überquellender Zitatenschatz als Früchte staunenmachender Belesenheit. In genau solcher Manier »zappt« sich auch der Architekt quer durch die Epochen, Regionen und Lebensstile, etwa wenn er das Innenleben seiner Regierungsachse beschreibt: »Räumliche Vielfalt, die ÂTemperatur der Villa Hadrians in Tivoli, (...) das Kanzleramt als Villa, mit Höfen und Gärten, mit Cour d'honneur und Apfelbaum«. Ja, Apfelbaum, denn: »Die Dummen hasten, die Klugen warten, die Weisen gehen in den Garten.« Solch rhetorischer Aufwand muß wohl sein, denn wie anders ließe sich vermitteln, was weder rational zu begründen noch durch praktisches Nutzerhandeln zu beeinflussen ist - die Faszination kunstvoll erdachter Räume?
Wie anders klangen im Vergleich dazu doch die Ambitionen der »Modernen«: Frei Otto etwa haderte mit den (von ihm wesentlich inspirierten) Münchener Olympiazelten - sie waren am Ende »immer noch zuviel Architektur«; für ihn sollten Orte ihre Bedeutung nicht durch ausdrucksstark gebaute Bilder, sondern allein durch konkrete soziale Handlungen gewinnen. Axel Schultes will Architektur machen, rastlos beseelt von »Sucht und Suche nach suggestiver Räumlichkeit«.
Selbst die Baugeschichte wird zu einem einzigen Theater für die Sinne. Ob er die Piazza San Marco oder die Piazza Navona, den Münchner Hofgarten oder den Dresdner Zwinger zu Vorbildern seiner eigenen Entwurfsideen beruft - Schultes referiert seine Lieblingsstadträume stets, ohne die Realien ihrer unterschiedlichen Bestimmung oder gar Nutzbarkeit auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Damit werden die Paradebeispiele europäischer Stadtbaukunst zu Orten jenseits von Geschichte - ohne Herkunft, ohne Streit oder Schmutz, kurz: ohne Alltag.
Schultes sucht nicht das flirrende Spiel der Fragmente, ihm geht es um den heiligen Ernst des Ganzen. Er hat nicht von Las Vegas gelernt, sondern von Italien. Man muß ihn jener in den sechziger Jahren nachwachsenden Architektengeneration zurechnen, die sich in ihrer Abneigung gegen die zum »Bauwirtschaftsfunktionalismus« heruntergekommene Moderne von den Thesen Aldo Rossis ermutigt sah: »Formen und Typen besitzen eine Autonomie, die sich jenseits sozialer Verhältnisse, technischer Entwicklungen und paralleler künstlerischer Strömungen, ja selbst abseits der Nutzungen, als Konglomerat architekturimmanenter Gesetze behauptet.« Mit dieser Autonomieerklärung der Formen und Typen gegenüber allen »profanen« Ansprüchen an Architektur ließ sich auch jenseits des wilden Dekorativismus, der in Deutschland gemeinhin unter »postmodern« firmierte, problemlos Anschluß finden an die umfassende Ästhetisierung der Zeitgeist- und Lebensstilkultur der siebziger und achtziger Jahre. In Wirklichkeit war es ein zähes Ringen um Akzeptanz. Eine Jury nahm »ihren ganzen Mut« zusammen und entschied sich für Schultes' enorm theatralische Raum-Körper-Komposition als bauliches Bild einer neuen Berliner Republik.
Als es dann ernst wurde, und namentlich das Kanzleramt die rigide »Apparatefestung« mit ihrer verkündeten »Disziplinierung der Ämter« nicht annehmen wollte, begann Schultes allerdings den eigenen Entwurf und die darin eingeschriebenen politischen Signale zu demontieren. Zuerst am Bürgerforum: Es wurde »entschärft«, das heißt sicherheitstechnisch unter Kontrolle gebracht; trotzdem blieb es - weil sich keine der parlamentarischen Institutionen für solch einen »Bürgerort« zuständig fühlte - mit ungewissem Schicksal im entscheidungsleeren Raum hängen. Dann am Kanzleramt: Zuerst wurde es aus dem egalisierenden Horizont der übrigen Verwaltungstrakte entlassen und fast bis auf Höhe der Reichtstagstürme zum Vorschein gebracht; dann mußten, wegen »fernsehgerechter Erkennbarkeit«, visuelle Attraktionen gefunden werden, und zwar auf der eigentlich dekorlos geplanten Fassade. Diese Zumutung verführte Schultes und Frank monatelang auf das »Glatteis einer architecture parlante« (Olwer Elser), bevor sie sich mit einem Arrangement frei postierter Stelen aus der Affäre zogen. Insgesamt jedoch hat das schließlich zur Ausführung bestimmter Gebäude mit dem im Wettbewerb prämierten Entwurf nicht einmal mehr die grobe Umrißgeometrie gemein.
Im langen Streit um Ämterdominanz und Sicherheitsbedürfnisse gingen nicht nur wohlproportionierte Gebäudestrukturen, sondern vor allem die städtebauliche Grundidee verloren, und damit das Gerüst für das Eigentliche - den politischen Symbolgehalt. Der Vorgang zeigt, daß souveräner Umgang mit »autonomen« Formen nicht nur stark macht (nämlich in der Konkurrenz um prägnante Bilder); er macht auch schwach (wenn es um deren Durchsetzung geht): Was hier wie dort, für dies oder das brauchbar und angemessen gilt, läßt sich in der Stunde der Wahrheit für einen bestimmten Ort und Zweck nur schwer verteidigen.
Unter den Ideologen von damals geht heute der Zynismus um. Doch die sich damals statt gesellschaftsanalytischen Debatten lieber Stilfragen widmeten, sind heute von solchen Kompensationsfolgen frei: Sie haben die hehren Ansprüche von einst nicht vergessen. Ihre Moral ist unerschütterlich, weil sie auf die Schärfe der Begriffe überprüft. Sie stehen, wenn das Bild denn heute noch trägt, als »reine Toren« vor einer desillusionierten und immer widersprüchlicher werdenden Welt. Noch immer zur Utopie begabt, beneidenswert bildungsgesättigt, aber gefangen in der Teilnahmslosigkeit verbohrten Ästhetentums. Romantiker, und dann auch noch deutsche! Also war es doch kein Wunder, daß für ein neues Regierungsviertel in Berlin von der Jury unter 835 Vorschlägen dieser eine mit solcher Entschiedenheit ausgewählt wurde: Er war überhaupt die einzig mögliche Wahl.
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