Als die DDR sich ihrem Ende zuneigte, notierte der Dresdner Dichter Thomas Rosenlöcher am 6. Dezember 1989 in seinem Tagebuch folgende kleine Geschichte: "Dieses Jahr ist am Rande von Dresden die Pirnaer Landstraße verkauft worden. Ein Straßenarbeiter [...] versicherte mir, daß die von drüben die Pflastersteine mit ihrer Technik ohne weiteres abtransportiert hätten. Obwohl die Pirnaer Landstraße zu Teilen nun im Hunsrück oder im Taunus, in Freiburg oder in Bremen liegt, heißt sie hier, Asphalt drüber und damit fertig, noch immer Pirnaer Landstraße. // Ach wäre ich ein Pflasterstein, // ich könnte längst im Westen sein." *)
Zehn Jahre später, an einem heißen Sommertag, sitze ich im Schatten eines Baumes auf Stump
Baumes auf Stumpf´s Hof und lasse mir von der Kellnerin zum Glas Lößnitzer Wein das Dresdner Telefonbuch bringen. Ich muss dringend Rosenlöchers Adresse herausfinden, um ihm wenigstens ein Postkärtlein zu schicken. Ich habe sie nämlich gesehen. Nicht auf der Pirnaer Landstraße, sondern hier, direkt vor der Tür, auf dem Anger von Alt-Kötzschenbroda! Sie sind wieder da! In riesigen Haufen liegen sie bereit - die einst verkauften Pflastersteine. Wie der Dichter es sich einst erträumte, kamen sie am Ende doch von ihrer "Dienstreise in den Westen" zurück, und solche Rückkehr bedeutete damals ja immer auch: Kräftig was dazu gelernt in der großen weiten Welt. Ob nun wirklich aus "Hunsrück oder Taunus" oder (sehr viel wahrscheinlicher) jetzt aus einem namenlosen böhmischen Dorf ... auf jeden Fall steht hier "Technik von drüben" in ausreichender Menge bereit, um den schändlichen Vorgang des Jahres ´89 rückwärts abzuspulen: Glatter Asphalt raus, Holpersteine rein. Alt-Kötzschenbroda ist optisch wieder in der vormodernen Zeit, und somit praktisch in der Welt von morgen angekommen. Der reale OrtAn der Verbindungsstraße von Dresden nach Meißen, wo im malerischen Elbtal die südländisch anmutenden Rebhänge schon weit auseinander schwingen, liegt die Lößnitz, das Zentrum des Meißner Weinbaugebiets, und mitten in dieser mit Naturschönheiten gesegneten Landschaft liegt die Stadt Radebeul. Aber was seit 1935 unter diesem Stadtnamen verwaltet wird, sind in Wirklichkeit zehn alte Dorfkerne, die mehrheitlich auf slawische Gründungen zurückgehen. Nur die beiden jüngeren entstanden im 19. Jahrhundert als vorstädtische Villenkolonien für stadtflüchtiges Dresdner Bürgertum. Über diese Gegend war vor dem Ersten Weltkrieg mit der Reblaus eine ökonomische Katastrophe gekommen, aus der mancher aber bald als "Millionenbauer" wieder hervorging: Fortan wurden nur noch die Hänge bestellt und die Lagen im Tal als Baugrund verkauft. Obwohl man weiterhin Weinbau betrieb, war in die Lößnitzdörfer doch eine gewisse Wohlhabenheit eingezogen.Unter den Dörfern in der Elbaue hatte Kötzschenbroda schon früh einige Bedeutsamkeit erlangt: Erstens durch sein Pfarrhaus, in dem 1645 die Heerführer Sachsens und Schwedens jenen Waffenstillstand unterzeichneten, der zum Westfälischen Frieden führte. Und zweitens durch einen obskuren Schlager der letzten Nachkriegszeit, von dem noch zu reden sein wird. Darüber hinaus war es stets größer als sein Nachbardorf Radebeul gewesen, so dass man beim Zusammenschluss der Lößnitzgemeinden die neue Stadt gerechterweise Kötzschenbroda hätte nennen müssen. Rücksicht auf hochdeutsche Sprachsensibilität, so heißt es, soll dieses verhindert haben.Die Dörfer, aus denen die derzeit 33.500 Einwohner zählende Große Kreisstadt Radebeul besteht, lassen sich noch immer deutlich erkennen. Ihre alten Anger sind durch typische Bauformen der mittelsächsischen Weinbauernwirtschaft geprägt: Schmalbrüstige Wohn- und Stallgebäude bilden extrem enge, aber tiefe Dreiseithöfe. Schwere steinerne Erdgeschosse tragen zumeist je ein Obergeschoss in Fachwerk, darüber einfache Ziegeldächer. Kötzschenbroda hatte zu Beginn des letzten Jahrhunderts mehrere Versuche einer "Verstädterung" erfahren, vor allem in Flussnähe (mit Dampferanlegestelle und Ausflugslokalen) sowie entlang der - für die Gründerzeit natürlich wichtigen - Bahnhofstraße. Dem Anger allerdings blieb sein markanter dörflicher Charakter bis in die Gegenwart erhalten. Ausgerechnet die restriktive Praxis der DDR-Verwaltung hat hierzu beigetragen: Enteignungen hatte es nicht gegeben, dafür aber seit 1972 einen "Neubau- und Modernisierungsstop", was einem indirekten Todesurteil für die uralten Gehöfte gleichkam und wohl auch exakt so gemeint war: herabwirtschaften bis zur Unbewohnbarkeit, dann Flächenabriss und Neubebauung mit WBS 70. Als Ergebnis dieser Politik war der Dorfkern von Kötzschenbroda 1989 zwar ziemlich desolat, aber substanziell fast noch im Vorkriegsstand erhalten, dazu komplett von angestammten Eigentümern bewohnt. Und weil die das beschauliche Maß ihres Angers schon bis dahin verteidigt hatten, wehrten sie sich auch gegen die ersten Baubegehrlichkeiten nach der "Wende", die mit neuerlicher Verstädterung für Dresdner Nobelzuzügler gleich loslegen wollten.Seit 1992 versuchte die Stadtverwaltung, für Alt-Kötzschenbroda eine umfassende Instandsetzung und Modernisierung in Gang zu setzen. Sieben Millionen Mark wurden für die zum Sanierungsgebiet erklärte Dorflage veranschlagt, doch der erste Versuch mit einem externen Bauträger ging schief - man war an einen Zocker geraten, dem es vorrangig um das Dealen mit bewohnerfreien Immobilien ging. Nach massiven Bürgerprotesten und anderthalb Millionen Schaden ruderte die Stadtverwaltung zurück. Da kam 1995 der aus Dresden vergraulte Baudezernent Ingolf Roßberg ins Radebeuler Rathaus. Als neuer Erster Bürgermeister erklärte er die Sanierung von Alt-Kötzschenbroda zur städtischen Angelegenheit, berief einen eigenen Sanierungsbeauftragten und sorgte mit energischem Management für einen raschen Baubeginn.Zu den schwierigeren, wiewohl typischen Problemen einer solchen Aktion gehörte u.a. die Finanzschwäche vieler alter Eigentümer, für die neben der öffentlichen Förderung auch spezielle Kreditverträge mit merklich zugeknöpften Banken ausgehandelt werden mussten. Kaum einfacher war die Durchsetzung der Gestaltungssatzung, zu deren Aufstellung und rigider Anwendung man sich des Engagements zweier ortsansässiger Architekturbüros versicherte. Deren "regionalistische" Handschriften prägen heute das Ortsbild auf unübersehbare Weise. Es gab auch Glücksfälle, wie jenen bayerischen Investor, der "aus lauter Sympathie für das lebenslustige Weinbauerndorf" am Dorfeingang einen bereits zur Ruine verkommenen Ballsaal unter großem Mansarddach zum Hotel Goldener Anker mit anschließendem Ladenhof "stilgerecht" rekonstruieren ließ. Weil die Investition so sehr gefiel, eröffnete der Mann im benachbarten Bauernhaus gleich auch noch Stumpf´s Hof, ein Weinlokal mit sommerlichem Gartenausschank.Soviel Erfolg beflügelt. In den letzten fünf Jahren sind rund um den Anger fast einhundert Gebäude saniert worden. Durch Bündelung verschiedener Förderwege flossen etwa 13 Millionen Mark öffentlicher Gelder, mit privaten Investitionen kamen insgesamt achtzig Millionen zusammen. Statt 600, wie zur "Wende", leben heute 700 Menschen im alten Dorf, 180 davon sind Zugezogene. Mit einem Abschluss der Sanierungsarbeiten wird bis zum Jahr 2004 gerechnet. Eine wichtige Zwischenetappe war 2000 erreicht: Da kam, allen Auto-Freaks zum Hohn, das Huckelpflaster auf den Anger zurück. Der fiktive OrtObwohl es ein Kötzschenbroda seit 1935 im deutschen Gemeindeverzeichnis gar nicht mehr gibt, geistert mit dem seltsamen Namen doch ein Nimbus durchs Land. Irgendwie hat von diesem "ursächsisch" klingenden Kaff schon jeder mal gehört. Das wird an dem Schlager aus früher Nachkriegszeit liegen, den der vom Krieg nach Radebeul verschlagene Bully Buhlan zur Melodie von Glenn Millers Chattanooga Choo Choo sang: "Entschuldigen Sie, ist das der Zug nach Kötzschenbroda?" (Drei Jahrzehnte später legte Udo Lindenberg mit seinem Sonderzug nach Pankow noch einmal nach.) Dass sich das berühmte Dorf seit der Stadtbildung hinter dem Bahnhofsnamen Radebeul-West verbarg, haben Millionen durchrasender Passagiere der Hauptstrecke Berlin-Dresden ganz sicher nie gewusst.Jetzt soll der ominöse Schlagerruhm von einst mit einer neuen Fiktion noch übertroffen werden: Kötzschenbroda hat den Karrieresprung zum weinseligen Ausflugsparadies der sächsischen Landeshauptstadt schon geschafft. Der Lößnitzer Weinbau hat - anders als fast alle übrigen Erwerbszweige der Region - unter der Rückkehr der Marktwirtschaft kaum gelitten. Da werden die "zurückgekehrten Pflastersteine" wohl wahre Goldgräberträume geweckt haben ... wenn sie von putzigen Winzerdörfern an Rhein und Mosel berichten konnten, in denen das ganze Jahr über Karneval herrscht, wo allmorgendlich durstige Touristenscharen einfallen und sämtliche Küchen, Keller und Andenkenläden abräumen, dass es in den Kassen nur so brummt (von Speisekarten in Japanisch ganz zu schweigen). Und die gelehrigen Sachsen machten sich ans Werk. Haus für Haus streifte Alt-Kötzschenbroda seine Aschenputtel-Vergangenheit ab und begann in Weiß, Taubenblau, Kaisergelb, Ziegelrot und anderen kräftigen Farben zu leuchten. Plötzlich kann man seitab halböffentliche Gassen durchstreifen, um im Hinterland dezente neue Wohnlagen zu entdecken. Auf Schritt und Tritt regiert die Umsicht streng dem ländlichen Leitbild verschworener Architekten. Ob sie ein überkommenes Altes neu inszenieren oder es als Dorfbild "mutig" frei interpretieren - die schmückende Hand der Dekorateure waltet überall. Und die Bewohner machen eifrig mit: Selbst Auswahl und Arrangement der Blütentöpfe rund um die sandsteinernen Eingangsstufen folgt den strengen Geschmacksregeln einschlägiger Landhaus-Magazine. Nur eines sucht man, sobald über ein Grundstück die Modernisierung kam, vergeblich: die Ahnung vom alten Dorf.Zehn Kneipen haben sich inzwischen am neuen alten Anger niedergelassen. "Die alte Schmiede ist jetzt Stadtgalerie. Am Abend tummelt sich die Szene in der zweistöckigen Bilder-Schmiede. Maler, Musiker, andere Kulturarbeiter, Rechtsanwälte, Architekten und Neueinwohner plaudern bei rotem und weißem Wein", freut sich das lokale Feuilleton, dem übrigens mit der selbstverständlichen Doppelnennung von "kreative Berufe" und "Neueinwohner" eine nachdenkenswerte Information zu danken ist. Dass diese Entwicklung - Soziologen nennen sie Gentrifizierung - nicht von vornherein beabsichtigt war, will man den Initiatoren der Angersanierung gern glauben. Doch ein bisschen war es wohl wie im Märchen vom Topf mit dem süßen Brei: Den gutgemeinten Anfang machten wie immer alternative und ökologisch inspirierte Projekte - ein Reformhaus, eine Möbelwerkstatt, ein Frauencafé, ein Eine-Welt-Laden. In dem am auffälligsten herausgeputzten Gehöft engagierte sich gar die Stadt als "Ankermieter", mit Kulturamt samt kommunaler Galerie, Jugendclub und Familienzentrum. Dann kamen die Keramiker, Grafiker, Architekten, denen man gezielt Atelierräume geschaffen hatte, und in deren Schlepptau kamen die Büros und Nobelwohnungen, die Boutiquen, die Kramläden für nutzloses Allerlei und - natürlich - die Kneipen. Die Kohlenhandlung, eine Karosseriewerkstatt mussten weichen, dafür leistet man sich zum traditionellen Weinfest jetzt ein internationales Treffen der Wandertheater am Elbestrand.Da wirkt jene öffentlich annoncierte Sprechstunde, auf der " Hilfe für Familien in finanziellen Notlagen " angeboten wird, inzwischen wie ein irritierender Missklang in der wohlhabend-heiteren Freizeitidylle. Ähnlich abstrus wie das letzte noch "aktive" Bauerngehöft gegenüber der Kirche, das nach dem Willen der Ortsbildgestalter unbedingt in Funktion bleiben soll. Wenigstens einen echten Landwirt will man noch nachweisbar halten zwischen all den fröhlich-rustikalen Dorfhaus-Attrappen. Ob Bauer Klinger dann irgendwann von den Kneipiers eine Umlage kassiert für die "original ländlichen Düfte" aus seinem Stall? Man muss jetzt hier mit allem rechnen.*) Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdner Tagebuch. Frankfurt (M.) 1990, edition suhrkamp
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.