Das Atomtest-Domino

Versuchsstopp weltweit Die internationale Front der Atomwaffengegner wartet auf das Votum des US-Senats und will danach über weitere Schritte entscheiden. Werden Kernwaffentests dann verboten?

Während der Sicherheitsrat vor Wochenfrist unter Leitung von US-Präsident Obama über nukleare Nichtverbreitung debattiert, geht es gleich nebenan im Konferenzsaal III um eine weitere existenzielle Herausforderung. Unter dem Vorsitz von Bernard Kouchner und Taieb Fassi Fihri, den Außenministern Frankreichs und Marokkos, wird nach Wegen gesucht, um den Vertrag über einen nuklearen Teststopp zur verbindlichen Handlungsmaxime aller Staaten zu erklären. Erstmals seit zehn Jahren sind auch die Amerikaner wieder dabei, die zusammen mit den Nuklearmächten China, Israel, Indien, Nordkorea und Pakistan sowie den potenziellen Atomstaaten Ägypten, Indonesien und Iran zu den Verweigern gehören. Sie alle wollen sich bislang die Erprobung von Kernwaffen nicht vollends verbieten lassen. Im Unterschied zu immerhin 181 Staaten, von denen 150 die Ratifizierung abgeschlossen haben. Innerhalb der Ablehnungsfront wird derzeit genau verfolgt, wie sich die USA verhalten.

Rote Linie überschritten

Bei einer ersten Abstimmung im US-Senat fehlten am 13. Oktober 1999 19 Stimmen zur gebotenen Zwei-Drittel-Mehrheit. Dabei hatte alles gut angefangen. Präsident Clinton unterzeichnete den Teststopp-Vertrag am 24. September 1996 als erster Staatschef weltweit und pries ihn als „gigantischen Schritt vorwärts“. Dann jedoch kam die Administration von George W. Bush und rührte keinen Finger.

Die Obama-Regierung hat diese Obstruktion korrigiert und den Teststopp-Vertrag ausdrücklich gutgeheißen. Erstmals fand sich ein US-Präsident bereit, die besondere Verantwortung seines Landes für die nukleare Abrüstung einzugestehen. Schließlich waren es Amerikaner, die das Atomwaffenzeitalter vor 64 Jahren einläuteten. Am 16. Juli 1945 zündeten sie in der Wüstenregion Jornada del Muerto (Weg des Todes), nordöstlich von Alamogordo (Staat New Mexico) ihren ersten nuklearen Sprengsatz Trinity. Um 5.29 Uhr Ortszeit schloss sich der Stromkreis und eine atomare Kettenreaktion begann, die in weniger als einer Sekunde eine ungeheure Energie freisetzte. Ein riesiger Feuerball erhob sich über dem Wüstensand.

Mit Sonnenbrillen ausgerüstete Wissenschaftler und Militärs aus dem Versuchslabor Los Alamos verfolgten das Schauspiel aus Kilometer entfernten Beobachtungsständen. Nach anfänglicher Euphorie über die gelungene Explosion – erinnert sich später der Experimentalphysiker Isidor Rabi – überlief fast alle ein Frösteln, das nicht von der Morgenkühle herrührte. Langsam drang die Ahnung ins Bewusstsein, dass man soeben eine Rote Linie überschritten und die Menschheit mit der Fähigkeit zur Selbstvernichtung ausgestattet hatte.

Es könnte sein, dass sich das lange Warten auf die USA in Sachen Teststopp endlich auszahlt. Auch einflussreiche Republikaner wie Ex-Außenminister Kissinger sind inzwischen für den Vertrag. Vizepräsident Joseph Biden – unterstützt von John Kerry, dem Vorsitzenden des außenpolitischen Senatsausschusses – macht im Kapitol Lobbyarbeit für den globalen Teststopp.

Überläufer gesucht

Für eine Zwei-Drittel-Mehrheit brauchen die Demokraten im Senat mindestens acht Überläufer aus dem republikanischen Lager. Mit der Stimme von Senator Arlen Specter aus Pennsylvania ist zu rechnen, da er bereits bei der ersten Abstimmung positiv votierte. Einflussreiche Senatoren wie John Kyl (Arizona) und Jeff Sessions (Alabama) gelten als hartnäckigste Widersacher. Bei den moderaten Republikanern John McCain (Arizona), Richard Lugar (Indiana), Susan Collins und Olympia Snowe (Maine) und George Voinovich (Ohio) rechnen sich Biden und Kerry hingegen gute Chancen aus. Bis zum kommenden Frühjahr, wenn die entscheidende Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag stattfindet, soll die Ratifikation erfolgt sein.

„Es hat sich ein Fenster der Möglichkeiten geöffnet, um den Teststopp-Vertrag endlich in Kraft zu setzen“, freut sich Florence Mangin, Frankreichs Chefkoordinatorin für diese Konferenz. „Wenn die USA ratifizieren, wird China folgen“, glaubt der Abrüstungsexperte Hans Lundborg aus Schweden, „und wenn China ratifiziert, folgen weitere Staaten.“ In Peking verfolge man „die Entwicklung in Washington sehr genau“, meint der chinesische Abrüstungsbeauftragte Cheng Jingye in New York am Rande der UN-Generalversammlung.

So viel darf vermutet werden – wenn die Chinesen den Teststopp durchwinken, wäre ein Dominoeffekt denkbar, der die indische Position nicht unberührt ließe, was wiederum auf Pakistan Einfluss hätte. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Domino-Theorie wirklich greift. Ein Selbstläufer wird der Teststopp niemals sein.

Bisherige Kernwaffenversuche

LandAnzahlTestgebiete
USA 1.146 New Mexico und Südpazifik, später Wüste von Nevada
UdSSR/Russland 715 Nowaja Semlja, Semipalatinsk
Frankreich 215 Sahara, später Polynesieninseln Moruroa und Fangataufa
China 45 Wüste Lop Nor
Großbritannien 44 Südpazifik, später Wüste von Nevada
Pakistan 6 Chagai-Berge in Baluchistan
Indien 5 Thar-Wüste von Rajasthan
KDVR 2 In Hwaderi nahe Kilju in der nordöstlichen Provinz Hamkyong

gesamt 2.178

Quellen: Arms Control Association, Bulletin of the Atomic Scientists

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