Tempo beim Neustart

Abrüstung Die USA und Russland wollen den START-Vertrag zum Abbau der Atomwaffen bis Ende Dezember verlängert haben. Wenig Zeit für die Unterhändler, viele Fragen sind offen

Als Rose Goettemoeller Mitte Mai zur ersten Verhandlungsrunde auf dem Moskauer Flughafen russischen Boden betrat, kam sie in kein fremdes Land. Die die promovierte amerikanische Politologin kennt die Hauptstadt seit Jahren. Bis Ende 2008 war sie in Moskau Direktorin der renommierten Carnegie-Denkfabrik. Sie spricht nicht nur fließend russisch, sondern gilt auch als erstklassige Abrüstungsexpertin. Jetzt verhandelt die Ministerialdirektorin im State Department mit ihrem russischen Gegenüber Anatoli Antonow über den weiteren Abbau der Atomwaffenarsenale.

Für Anfang nächster Woche ist bereits die zweite Runde in Genf angesetzt. Die beiden Verhandlungsführer kommen aus New York von der letzten Vorbereitungsrunde zur Überprüfungskonferenz des Kernwaffensperrvertrages. In ihren Ohren wird noch der Chor der Nichtkernwaffenstaaten nachklingen, der vielstimmig konkrete Abrüstungsergebnisse einfordert. Ohne die droht das für die internationale Sicherheit existenzielle Bündnis der Unterzeichner von 1968 auseinander zu brechen. Und das in einem Moment, da Präsident Barack Obama die Vision von einer atomwaffenfreien Welt wieder belebt und mit dem russische Staatschef Dimitri Medwedjew vereinbart hat, bis zum Jahresende radikale Reduzierungen auszuhandeln. Doch noch bestehen substanzielle Meinungsverschiedenheiten über ein Nachfolgeabkommen für den im Dezember auslaufenden START-I-Vertrag zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen. Das Abkommen erlaubt Russland und Amerika je 1.600 nuklear-strategische Trägersysteme, also U-Boote, Raketen oder Bomber, und je 6.000 nukleare Gefechtsköpfe. Nachfolgeverträge traten entweder nie in Kraft (START II) oder sind nicht ausreichend genug (SORT).

Verhandeln auf Augenhöhe

Grundsätzlich sind sowohl die USA als auch Russland an einer Verminderung ihrer Arsenale interessiert, denn ein mehrfaches nukleares „Overkill“ ergibt militärisch keinen Sinn. Zudem werden in Zeiten einer Weltwirtschaftskrise die enormen finanziellen Aufwendungen für den Unterhalt der Nukleardepots dringend anderweitig gebraucht. Deshalb wollen beide Seiten ihre Abrüstungspläne auch ungeachtet anhaltender außenpolitischer Differenzen fortsetzen, wie US-Außenministerin Clinton und ihr Amtskollege Sergej Lawrow beim jüngsten Treffen in Washington bekräftigten. Ausgehandelt werden muss vor allem, bis zu welcher Zahl von verbleibenden Atomwaffen jede Seite ihre Bestände verringern kann, ohne dass es zu Lasten der eigenen Sicherheit geht.

Für Moskau bleibt ein Umgang auf Augenhöhe überragendes Ziel. Militärisch bedeutet Parität freilich nicht unbedingt numerische Gleichheit bei allen Waffenkategorien. Wie einen Augapfel hüten die Militärs jedoch die so genannte Zweitschlagskapazität. Sie erfordert, auch nach einem Überraschungsangriff noch genügend Waffen für einen Vergeltungsschlag übrig zu haben. Hier beobachtet Moskau drei Rüstungsbestrebungen der Amerikaner mit Sorge: ihre Raketenabwehr überhaupt, die Dislozierung von Waffensystemen im Kosmos und die Stationierung von US-Raketen in Tuchfühlung mit den Grenzen der Russischen Föderation, etwa in Polen.

Und die Skeptiker auf russischer Seite sperren sich gegen allzu radikale Einschnitte. Die Rede ist von Höchstgrenzen zwischen 1.000 und 1.500 Nuklearsprengköpfen. Zurzeit verfügen beide Seiten über rund 3.000. „In der nicht nuklearen Welt wäre die Überlegenheit der USA absolut", fürchtet Sergej Rogow, Direktor des Moskauer Instituts für die USA und Kanada. Der frühere Vizebefehlshaber der Strategischen Raketentruppen Viktor Jessin warnt ebenfalls: „Reduzierungen auf ein Niveau von weniger als 1.000 Gefechtsköpfen würden – werden nicht zugleich die Möglichkeiten des US-Raketenabwehrsystems wesentlich begrenzt – gegen das Prinzip der gleichen Sicherheit verstoßen. Die Amerikaner werden imstande sein, mittels ihres Raketenabwehrsystems unsere restlichen Gefechtsköpfe abzufangen, während wir diese Möglichkeit nicht besitzen“, klagt der Generaloberst.

Professor Jewgeni Koschokin von der Lomonossow-Universität unterstellt sogar, Washington habe die Absicht, „Verhandlungen durchzuführen und das entstandene strategische Kräfteungleichgewicht juristisch festzuschreiben sowie ein Kontrollsystem vorzuschlagen, das der Spionage-, der Weltraum- und der Luftbildaufklärung helfen soll, das Potenzial von Russlands Atomwaffenkräften und ihre Entwicklungsmöglichkeiten bestmöglich aufzuklären.“

Robert Gates bleibt Realist

Moskau kontert daher in den Verhandlungen, die Liste der zu berücksichtigenden Waffensysteme zu erweitern. Man sei zu einer radikalen Abrüstung zwar bereit. Diese müsse aber ebenfalls Trägermittel wie Interkontinentalraketen, U-Boote und Langstreckenbomber einbeziehen. Die Reduzierung der atomaren Sprengköpfe dürfe nicht durch konventionelle Präzisionswaffen mit großer Reichweite kompensiert werden. Für ein Sicherheitssystem von „Vancouver bis Wladiwostok“, wie es Moskau vorschwebt, ist Russland bereit, sich am Aufbau einer Raketenabwehr zu beteiligen. Dafür müssten die USA aber auf die Militarisierung des Weltraums und die geplanten Raketenbasen in Polen verzichten. Als Alternative steht weiterhin das Angebot, die Frühwarnstation im südrussischen Armawir und die Gabala-Radaranlage in Aserbaidschan gemeinsam zu nutzen.

Die US-Verhandlungsführerin Goettemoeller zeigte sich aufgeschlossen: „Ich persönlich denke, das ist ein Angebot, das die Vereinigten Staaten prüfen sollten.“ Medwedjew reagierte prompt: „Ich freue mich, dass unsere amerikanischen Partner über dieses Thema sprechen wollen“, verkündete er in Moskau.

Wie auch immer es nun in Genf weitergeht, auf dem russisch-amerikanischen Gipfel Anfang Juli in Moskau soll ein START-Zwischenbericht vorgelegt werden. Wenn die Parlamente einem neuen Vertrag noch vor Jahresende zustimmen sollen, müsste bis spätestens September ein Ergebnis vorliegen. Immerhin signalisiert die US-Seite Entgegenkommen, Washington will etwa über die umstrittenen taktischen Atomwaffen erst später verhandeln. Das deklarierte Ziel einer atomwaffenfreien Welt bleibt jedoch in weiter Ferne. US-Verteidigungsminister Robert Gates meint lakonisch: „Ich schätze, das wird ein langer Marsch.“ Das Pentagon jedenfalls erwähnt Obamas „Option Zero“ im Entwurf Nuclear Posture Review für eine neue US-Nuklearstrategie mit keinem Wort.

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