Großbritanniens Kernwaffenarsenal wäre ohne die enge Kooperation mit den USA undenkbar. Bereits im II. Weltkrieg waren britische Wissenschaftler in Los Alamos am Bau der amerikanischen Atombombe beteiligt - diese Verflechtung sollte sich nach einer kurzen Unterbrechung (McMahon-Gesetz 1946) bis in die Gegenwart fortsetzen. Wir setzen mit dem folgenden Artikel die im Juli begonnene Serie (siehe Freitag 31 vom 23. 7. 2004) über die Potenziale und Einsatzdoktrinen der führenden Kernwaffen-Mächte fort.
Der erste britische Atomsprengsatz explodierte am 10. März 1952 auf den Monte-Bello-Inseln in Australien, fünf Jahre später folgte auf den Christmas Islands der Test einer ersten Wasserstoffbombe. Dabei erreichte der nukleare Fallout auf dem australischen Festland und den vorgelagerten Inseln sogar Melbourne, so dass weite Teile der betroffenen Regionen über Jahre hinweg schwer kontaminiert blieben. Als dagegen massive Proteste laut wurden, wich die britische Nuklearplanung auf das Testgelände in der Wüste von Nevada (USA) aus. Seit auch dort 1991 die Nuklearversuche eingestellt sind, beteiligen sich britische Experten an sogenannten "subkritischen Tests" der US-Nuklearstreitmacht, die es technologisch hochentwickelten Staaten erlauben, ihre Atomarsenal per Computersimulation zu optimieren.
Innerhalb ihrer "special relationship" einigten sich Briten und Amerikaner schon 1958 auf das Mutual Defence Agreement (MDA), das den Informationsaustausch ebenso wie den Transfer von Technologie und Nuklearmaterial (Plutonium, hoch angereichertes Uran und Tritium) regelt. Angesichts der seit 2001 geltenden Sicherheitsdoktrin der Bush-Administration, die auch einen präventiven Einsatz von Kernwaffen ausdrücklich vorsieht, ist diese Kooperation inzwischen heftig umstritten. So warnt etwa der British American Security Information Council (BASIC) davor, das MDA Ende 2004 erneut zu verlängern. Nicht allein die Kosten von 5,3 Milliarden Pfund sorgen für Unmut, mehr noch ist es die Vermutung, im Gespann mit den Amerikanern könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag wie dem Teststoppvertrag verletzt werden und das Nichtverbreitungsregime für Kernwaffen weiter unterminiert wird. Das wäre, so der britische Labour-Abgeordnete Alan Simpson, "eine Einladung an andere, sich dem Atomklub in gleicher Weise anzuschließen."
Bereits seit geraumer Zeit dürfen die USA im britischen Kommunikationszentrum Menwith Hill eine Kontrollstation für ihr im Weltraum stationiertes Infrarotsystem zur globalen Beobachtung von Raketenstarts betreiben. Auch signalisierte Verteidigungsminister Geoffrey Hoon sein Einverständnis mit der von amerikanischer Seite gewünschten Modernisierung der Radar-Frühwarnanlage auf der Royal Air Force Basis Fylingdales. Besondere Beziehungen zu den Amerikanern gewährten auch besonderen Einfluss auf deren Politik, argumentiert die Blair-Regierung, dies gelte nicht zuletzt für den Aufbau einer weltraumgestützten Raketenabwehr.
Labours Machtantritt 1997: Gegen jeden Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen
Jahrzehntelang hatte die Labour Party vehement für eine einseitige nukleare Abrüstung plädiert. Kaum war Tony Blair als Premierminister vereidigt, sah die Welt anders aus. "Es hat uns Jahre aufreibender Debatten gekostet, aber als wir 1997 an die Regierung kamen, hatten wir uns klar für die nukleare Abschreckung entschieden", erinnert sich der damalige britische Verteidigungsminister George Robertson. Dies bedeutete zugleich: keinen Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen.
Wie Frankreich hatte auch Großbritannien nach dem Ende der Ost-West-Polarität in der ersten Hälfte der neunziger Jahre begonnen, sein Nuklearpotenzial zu "reformieren". Durch Modernisierungen und Umstrukturierungen schmolz der Gesamtbestand an einsatzfähigen Kernwaffen zunächst auf 30 Prozent des ursprünglichen Arsenals. Um nur ein Beispiel zu nehmen: die Trident-U-Boote verfügen heute über eine Feuerkraft, die bei einem Drittel des entsprechenden Potenzials der einstigen Polaris-U-Boote liegt. 1998 wurden zudem die Tornado-Jagdbomber vom Fliegerhorst Brüggen (Nordrhein-Westfalen) ins englische Marham und ins schottische Lossiemouth verlegt.
Ein Jahr zuvor bereits hatte die nukleare Produktionsstätte in Cardiff nach 36-jährigem Betrieb ihre Pforten geschlossen. Derzeit werden Kernsprengköpfe nur noch in der etwa 80 Kilometer westlich von London gelegenen Rüstungsfabrik Aldermaston zusammengebaut und in neu eingerichteten Labors mit Lasertechnologie sowie hydrodynamischen Tests überprüft. Im Ergebnis dieses Rückbaus verfügt Großbritannien nach Angaben des renommierten Bulletin of the Atomic Scientists zur Zeit über 185 einsatzbereite Atomsprengköpfe, während weitere 15 nukleare Sprengsätze eingelagert seien, gewartet oder überprüft würden.
Parallel dazu beschränkt man sich - seit die Tornado-Jagdbomber ihre nukleare Funktion eingebüßt haben - bei den strategischen Trägermitteln allein auf die seegestützte Komponente, ergänzt durch einen mit den USA gemeinsam unterhaltenen Pool von 58 Trident-Raketen auf der U-Boot-Basis Kings Bay im Bundesstaat Georgia. Die Trident-Raketen sind flexibel einsetzbar, denn abhängig von der angestrebten Reichweite können sie mit einem Sprengkopf für strategische oder mit bis zu drei Mehrfachsprengköpfen für taktische Aufgaben ausgerüstet werden. Über eine mögliche Trident-Nachfolgegeneration wird augenblicklich höchst kontrovers debattiert, möchte doch die Regierung die heikle, weil kostspielige Entscheidung bis nach den Parlamentswahlen 2006 verschieben. Sie dürfte bei alldem nicht umhin kommen, jenen Zustand zu offenbaren, der mehr als alles andere die Zukunft des eigenen Nuklearpotenzials tangiert: "Um ein Kernwaffenstaat bleiben zu können, wird Großbritannien hochgradig auf US-amerikanische Hilfe angewiesen sein", umreißt die Zeitschrift Disarmament Diplomacy die Situation.
Das ändert vorerst nichts an den strategischen Kapazitäten Großbritanniens, zu denen auch die Fähigkeit für "sub-strategische Missionen" gehört. Operationen, die das Verteidigungsministerium als "begrenzten und höchst selektiven Einsatz" beschreibt, der unterhalb eines strategischen Schlages liege, aber mit ausreichender Stärke geführt werde, "um einen Aggressor entweder zum Rückzug zu bewegen oder aber mit einem vernichtenden strategischen Schlag zu konfrontieren".
Als früh gestartete Kernwaffenmacht war Großbritannien von jeher an der völkerrechtlichen Absicherung seines nur mit wenigen geteilten Monopols interessiert. So wurde mit den USA und der UdSSR bereits 1963 jener Teststoppvertrag ausgehandelt, der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser verbot. Später setzte sich London aktiv für den Kernwaffensperrvertrag von 1970 ein, dessen Überprüfung im nächsten Jahr fällig ist. Ein Ereignis, das schon jetzt seine Schatten voraus wirft, da sich Großbritannien wie die übrigen Atommächte mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, die mit dem Abkommen seinerzeit übernommenen Abrüstungsverpflichtungen ignoriert zu haben. Keineswegs überraschend gehörte denn auch die britische Delegation auf dem diesjährigen Vorbereitungstreffen neben der amerikanischen und französischen zu den schärfsten Gegnern jeglicher Debatten über bindende Abrüstungsschritte.
Schließlich sei man - heißt es in London - seit 1987 Mitglied im Missile Technology Control Regime (MTCR), das durch koordinierte Exportkontrollen die Verbreitung von Raketen und anderen waffenfähigen Trägersystemen verhindere. 1996 habe man zudem bereits den umfassenden Teststoppvertrag ratifiziert und unterstütze einen Produktionsstopp für waffenfähiges Spaltmaterial.
Falklandkrieg 1982: radioaktive Fracht vor der argentinischen Küste
Über den nationalen Rahmen hinaus sind die britischen Kernwaffen der Befehlsgewalt der NATO zugeordnet. Das heißt, Einsatzoptionen wie Zielplanung entsprechen Politik und Strategie der Allianz, die sich ihrerseits weitgehend an die Nukleardoktrin der USA anlehnt. Im Ernstfall entscheidet demzufolge der Supreme Allied Commander Europe (SACEUR), ein amerikanischer Vier-Sterne-General als Oberkommandierender des NATO-Hauptquartiers Europa, über mögliche Atomschläge.
Das für den britischen Generalstab der Einsatz von Kernwaffen kein virtueller Vorgang ist, lässt sich jüngster Vergangenheit entnehmen. Während des Falkland-Krieges von 1982, geführt unter Premierministerin Margaret Thatcher, hatte Argentinien mehrfach dagegen protestiert, dass die britische Flotte im Südatlantik mit Atomwaffen bestückt war. Wie es hieß, waren an Bord des von der argentinischen Luftwaffe am 4. Mai 1982 versenkten Kreuzers Sheffield Kernwaffen gelagert. Seither liegt die radioaktive Fracht, so die argentinische Version, auf dem Meeresgrund vor der argentinischen Küste. Der derzeitige Präsident Nestór Kirchner fordert deshalb von Großbritannien eine offizielle Entschuldigung sowie nähere Aufklärung über die mehr als 22 Jahre zurückliegenden Ereignisse. Wie ein Sprecher des britischen Verteidigungsministeriums bestätigte, handelte es sich seinerzeit tatsächlich um Nuklearwaffen zur U-Boot-Abwehr. Vor Auslaufen der Schiffe aus britischen Marinehäfen habe aus Zeitgründen keine Möglichkeit mehr bestanden, die Raketen auszugliedern - ein Einsatz sei jedoch nie vorgesehen gewesen. Die Atomwaffen seien dann aber auf See umgeladen und nach Großbritannien zurückgebracht worden, sie hätten nie südamerikanische Gewässer erreicht. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.
Auch die jetzige Labour-Regierung schließt die gezielte Anwendung von Atomwaffen nicht aus. Während des Irak-Krieges im März/April 2003 Jahr erklärte Verteidigungsminister Hoon ausdrücklich, sollten der Irak oder andere "kritische Staaten" Massenvernichtungswaffen gebrauchen, dann sollten diese Gegner wissen, "dass wir unter den richtigen Voraussetzungen bereit sind, unsere Nuklearwaffen zu nutzen".
Der britische Kernwaffenarsenal 2004
* Die Sprengkraft von Kernwaffen wird bezogen auf den herkömmlichen Sprengstoff Trinitrotoluol (TNT) angegeben.
Quelle: Bulletin of the Atomic Scientists
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