Den Atomtest Ende Mai begründete die nordkoreanische Führung damit, dass der UN-Sicherheitsrat die Souveränität des Landes verletzt habe, als er den Start einer koreanischen Langstreckenrakete Anfang April verurteilte: Mit dem Satz: „Wir haben keine andere Wahl, als unsere atomare Abschreckung zur Selbstverteidigung weiter auszubauen“, gaben die Regierenden in Pjöngjang zu verstehen, dass man sich als David des Goliaths USA erwehren müsse.
Wie auch immer diese Lesart zu bewerten ist, eines steht außer Frage: Nordkorea hat dem ohnehin maroden nuklearen Nichtverbreitungssystem einen weiteren Schlag versetzt. Pjöngjang erweist sich als ein Risikofaktor für die Proliferation. Es kann Plutonium herstellen und das Know how an andere Lä
re Länder verkaufen wie auch eigene Raketentechnik. Flugkörper gingen bereits an Syrien, Jemen und wahrscheinlich nach Pakistan. Auch der Iran soll an der neuen Taepodong-2-Langstreckenrakete interessiert sein.Wie die Hiroshima-Bombe Die atomare Karte spielt das Regime von Kim Jong-Il virtuos und effektiv. Und das von Anfang an. Bereits in den achtziger Jahren ertrotzten die Machthaber in Pjöngjang von der Sowjetunion und China handfeste materielle Unterstützung. Als Nordkorea dann nach langem Zögern und nicht ohne sanften Druck 1985 dem Atomwaffensperrvertrag (NPT) beitrat, begann das bis heute andauernde Katz-und-Maus-Spiel.Erst nach sieben Jahre wurde das erforderliche Kontrollabkommen mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) abgeschlossen, was nichts daran änderte, dass in der Folgezeit immer wieder Vermutungen über heimliche Nuklearaktivitäten Pjöngjangs auftauchten. Kontrolleure der IAEA läuteten frühzeitig die Alarmglocken. Mit der illegalen Wiederaufbereitung ausgebrannter Plutoniumbrennstäbe verstieß Nordkorea eklatant gegen den Sperrvertrag und gewann so waffentaugliches Spaltmaterial zum Bau der Bombe. Anfang 2003 schließlich verkündete Pjöngjang den Vertragsaustritt und erklärte sich zwei Jahre später selbst zur Atomwaffenmacht.Obwohl manche Beobachter den ersten Nuklearversuch im Oktober 2006 noch als Fehlzündung herunter spielten, gibt es nach der zweiten Testexplosion vom 25. Mai 2009 in der Stärke einer Hiroshima-Bombe keinen Zweifel mehr am atomaren Status. Nach Schätzungen umfasst das nordkoreanische Arsenal jetzt zehn bis fünfzehn Sprengköpfe. Gleichzeitig betreiben die Militärs ein extensives Testprogramm mit Flugkörpern bis zu Reichweiten von 6.700 Kilometern, um notfalls Alaska, Kalifornien und Hawaii zu erreichen. Aus all dem lässt sich entnehmen: Die nordkoreanische Führung scheint entschlossen, auf der Eskalationsleiter Stufe für Stufe nach oben zu klettern. Aus Protest gegen die Ankündigung Seouls, der US-Initiative gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (PSI/s. Glossar) beizutreten, betrachtet Pjöngjang nun gar den Waffenstillstand von 1953 als ungültig und droht mit einem Militärschlag, falls der Süden es wagen sollte, auf der Suche nach Waffentransporten Schiffe auf dem Weg in nordkoreanische Häfen aufzuhalten. Ein militärischer Schlagabtausch auf See ist nicht ausgeschlossen.Trotzdem wird niemand ernsthaft annehmen, dass Nordkorea den kriegerischen Konflikt mit Südkorea und den USA riskiert (s. Seite 9). Aber nicht zuletzt die auf Regimewechsel zielende Politik der Bush-Administration, die Pjöngjang auf die „Achse des Bösen“ verbannte, hat die nordkoreanische Führungsriege in ihrem Misstrauen weiter bestärkt. Nur mit dem ständig präparierten Atomknüppel glaubt man, sich behaupten zu können. Nicht ohne Grund, denn die Erfahrungen der bisherigen Politik von Zuckerbrot und Peitsche besagen, dass Sanktionen und Boykottmaßnahmen gegen das abgeschottete Land weitgehend wirkungslos bleiben.Scheinheilige FlickschustereiMuss nun die internationale Staatenwelt tatenlos zusehen, wie nicht nur Nordkorea, sondern als Reaktion möglicherweise auch Japan, Südkorea und Taiwan nuklear aufrüsten? Das Raster für ein regionales Wettrüsten liefern Indien und Pakistan. Und wenn nicht bald eine Friedensordnung für Nahost greift, wird Israel mit Iran, Ägypten, Algerien, Saudi-Arabien, Syrien und möglicherweise der Türkei demnächst eine atomare Nachbarschaft bekommen. Damit würde das stark angeschlagene Regime der nuklearen Nichtverbreitung endgültig zusammenbrechen.Gerade in diesen Tagen ließ eine in konstruktiver Atmosphäre verlaufende Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York wieder Hoffnung aufscheinen. Nicht zuletzt das Versprechen der fünf offiziellen Atomwaffenmächte – USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China –, „beständig und eindeutig“ auf die nukleare Abrüstung hinzuwirken, hat dazu beigetragen. Außerdem verhandeln die USA und Russland wieder über einen Abbau ihrer strategischen Arsenale und erklären ein neues START-Abkommen (s. Glossar) ausdrücklich zum Schritt in eine atomwaffenfreie Welt. Ob unter diesen Umständen der Kalte Krieg in Nordostasien wirklich eine Ohrfeige für US-Präsident Barack Obama und seine „Option Zero“ ist, wird sich zeigen.Die Führung in Pjöngjang handelt zwar provokativ und stur, doch keinesfalls irrational. Sie will als Atommacht respektiert werden und mit den USA von gleich zu gleich sprechen. Nur ein ernst gemeintes Angebot Washingtons, das Existenzangst und Wirtschaftsnot des Schwächeren berücksichtigt, hat eine Chance. Hinzu kommen muss freilich die glaubhafte Bereitschaft der Amerikaner, irgendwann selbst auf die ultimative Waffe zu verzichten.Gerade die jüngste Entwicklung bezeugt, dass die Eindämmung von Nuklearwaffen nicht funktioniert, wenn sie zur scheinheiligen Flickschusterei verkommt. Viel zu lange haben die etablierten Atommächte in dem Irrglauben gelebt, sie könnten ihr Monopol auf ewig konservieren. Heute ist absolut klar, dass ein „Weiter so“ unweigerlich für neue Atomstaaten sorgt und die Begehrlichkeit von Warlords in Zentralasien, im Nahen Osten oder in Afrika weckt. Nukleare Abrüstung ist kein Fernziel, sondern Tagesaufgabe.Wolfgang Kötter ist Politikwissenschaftler und Abrüstungsexperte an der Universität Potsdam.