Nein, Horst Köhler spielt seine Rolle schlecht. Damit meine ich nicht, dass es ihm - stockend, wie er geredet hat - offenbar schwer fällt, vom Teleprompter abzulesen oder dass er vielleicht unsicher war. Das wäre nachsehbar.
Nein, er begreift seine Rolle nicht, weil er sich als Bundespräsident bei seiner Ermessensentscheidung nach Artikel 68 GG nicht darauf beschränkt, was die Verfassung vom obersten Repräsentanten des Staates bei einer Auflösung des Bundestags verlangt - nämlich abzuwägen, ob die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers etwa nur ein Trick war, um ein in der Verfassung ausdrücklich nicht vorgesehenes Selbstauflösungsrecht zu fingieren.
Das allein war die Frage, über die der Bundespräsident zu entscheiden hatte, aber darauf gibt er keine Antwort. Er referiert nur, was jeder schon weiß, dass es das Grundgesetz dem Bundeskanzler ermöglicht, eine parlamentarische Vertrauensfrage zu stellen und dass dies in der Geschichte der Bundesrepublik zweimal der Fall war.
Er sagt, er habe die Beurteilung des Bundeskanzlers "eingehend geprüft", also dessen Behauptung, dass seine Handlungsfähigkeit derart beeinträchtigt sei, dass er eine "von einer stetigen Zustimmung der Mehrheit getragene Politik nicht (mehr) sinnvoll verfolgen kann". Wer eine Auskunft darüber erwartet hat, an Hand welcher Kriterien der Bundespräsident geprüft hat oder welche Argumente seine Prüfungsentscheidung tragen, bleibt ratlos zurück.
Man wagt gar nicht daran zu denken, dass Köhler bei seiner Prüfung auch nur einen Gedanken daran verschwendet haben könnte, ob nicht vielleicht der Kanzler durch den Bruch von Wahlversprechen seiner SPD selbst dazu beigetragen hat, dass die Zustimmung zu seiner Agenda-Politik für die nach wie vor vorhandene rot-grüne Mehrheit nur noch mühselig zustande kommt.
Dass Köhler die Argumente der Zweifler "gehört und ernsthaft gewogen" haben will, ist schön und gut, aber man hätte gern einen einzigen Zweifel ausgeräumt gesehen. Statt dessen zitiert er das 83er Urteil des Bundesverfassungsgerichts, sagt aber mit keinem Wort, warum er "keine andere Lagebeurteilung" sieht, "die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist". Hat Köhler etwa gar nicht mitbekommen, dass nur Tage vor seiner Entscheidung im Parlament noch mehrere keineswegs unwichtige Gesetze mit Regierungsmehrheit verabschiedet wurden? Könnte der Bundeskanzler das SPD-Wahlmanifest etwa nicht mit einer rot-grünen Mehrheit durchsetzen?
Stattdessen redet Köhler um so mehr über politische Sachverhalte, die mit seiner Ermessensentscheidung, ob über den "Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen" (Art. 68 GG) ein echtes oder manipuliertes Votum im Bundestag stattgefunden hat, überhaupt nichts zu tun haben.
Köhler malt das von allen "Systemveränderern" bemühte Katastrophengemälde über die "ernste Situation" des Landes, wie es in den Wahlkampfpostillen des Konrad-Adenauer-Hauses oder den Szenarien aus dem "Haus der Wirtschaft" nicht bedrohlicher gemalt werden könnte. Etwa wenn er davon spricht, dass "unsere Zukunft und die unserer Kinder...auf dem Spiel" stehe, wenn er beklagt, dass wir "zu wenige Kinder" hätten und "immer älter" würden, wenn er auf eine "nie da gewesene kritische Lage" der öffentlichen Haushalte verweist (an der er als Finanzstaatssekretär durch die falsche Finanzierung der Einheit kräftig mitgewirkt hat).
Wieder einmal hört man nichts vom Exportweltmeister Deutschland, nichts vom Zurückbleiben der Nettoreallöhne, nichts von der Raffkementalität in den Vorstandsetagen, nichts von der großen Schere zwischen Arm und Reich. Das gehört offenbar nicht zu den "gewaltigen Aufgaben", vor denen das Land steht. Dass man dieses einseitig negative Bild, das Köhler zeichnet, auch ganz anders sehen kann, beweist Schröders Reaktion Minuten nach der als spektakulär inszenierten Entscheidung des Bundespräsidenten: "Deutschland ist auf einem guten Weg" setzt das Verfassungsorgan Bundeskanzler dem Verfassungsorgan Bundespräsident als Urteil entgegen. Schon aus dieser unterschiedlichen Lagebeurteilung mag das dritte Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht erkennen, dass die Begründung Köhlers für Neuwahlen jedenfalls keine Tatsachenbewertung, sondern ein politisches, ja sogar parteiliches Urteil darstellt.
Doch dafür ist der Bundespräsident qua Amt nicht zuständig. Über die wirkliche Crux des Bundesstaates - die parteipolitisch motivierte Blockade der Union im Bundesrat - verliert Köhler kein Wort, stattdessen räumt er im Vorbeigehen das Grundgesetz ab und erklärt als oberstes Staatsorgan die gesamte "bestehende föderale Ordnung" für "überholt". Mit dem gleichen Recht hätte er auch die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten als "überholt" erklären und eine "Präsidialdemokratie" fordern können. Wo es mit Deutschland lang gehen muss, das meint dieser Präsident ohnehin am besten zu wissen - nämlich die "Freiheit zu sichern und einen modernen Sozialstaat zu gestalten". Was Köhler darunter versteht, das hat er nicht zuletzt in seiner Rede vor dem Arbeitgeberforum am 15. März 2005 ausgeführt, nämlich "Privateigentum, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und ein stabiles Geldwesen, eine Sicherung vor den großen Lebensrisiken für jeden und Haftung aller für ihr Tun und Lassen."
Der Bundespräsident hat sich einmal mehr als Parteigänger der neoliberalen "Reformer" erwiesen. Diese loben jetzt natürlich unisono seine "weise" Entscheidung. Mag sich Horst Köhler in der Gunst der allgemeinen Zustimmung sonnen, so enthebt ihn das noch lange nicht von seiner Amts-Pflicht, die Verfahrensregeln der Verfassung ernst zu nehmen. Das ist der Ernst der Lage.
Wolfgang Lieb war bis 2000 Staatssekretär im Wissenschaftsministerium von NRW.
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