Kantersieg der Kanzlerin

Ausgezählt Die SPD hätte beim Arbeitslosengeld I wie auch beim Mindestlohn sehr viel mehr erreichen können. Die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ist ein verhängnisvolles Signal

Einen "großen Erfolg" nennt SPD-Chef Kurt Beck die inzwischen auch vom Bundestag abgesegnete Einigung mit der Union auf geringere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und eine längere Zahlung von Arbeitslosengeld für über 50-Jährige. Enttäuscht ist er über die Weigerung von CDU/CSU, Briefzusteller vor Lohndumping zu schützen. Schaut man sich die jüngsten Koalitionskompromisse genauer an, bleibt als Fazit, dass die Kanzlerin den fast gleich starken Partner knallhart an die Wand gespielt hat.

Erinnern wir uns, der Hamburger Parteitag der SPD hatte den Beck-Vorschlag abgesegnet, den Bezug von ALG I nach Vollendung des 45. Lebensjahres bis zu 15 Monate und nach Vollendung des 50. Lebensjahres bis zu 24 Monate zu ermöglichen. Die Kosten sollten aus den Überschüssen der Bundesagentur für Arbeit (BA) finanziert werden. Gelandet ist der Koalitionsausschuss bei der Regelung: Arbeitslose ab 50 erhalten eine Zahlung für 15 Monate, Arbeitslose ab 55 für 18 Monate und ab 58 für 24 Monate.

Also Verbesserungen erst ab 50 statt ab 45 Jahren, bei 55-Jährigen ändert sich im Vergleich zur jetzigen Praxis gar nichts - 24 Monate ALG I erst ab 58 statt ab 50 Jahren. Die Sozialdemokraten mussten eben einen Kompromiss schließen, könnte man sagen, obwohl die Christdemokraten schon auf ihrem Dresdener Parteitag 2006 eher längere Bezugsfristen beschlossen hatten. Fazit: Die Kanzlerin fühlte sich noch nicht einmal an Entscheidungen der eigenen Partei gebunden. Wo bleibt da eigentlich der Protest von Jürgen Rüttgers?

Hubers Parole

Kompromisse finden, das heißt normalerweise geben und nehmen. Verhandlungsmasse wäre die Höhe der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gewesen. Nachdem die schon von 6,5 auf 4,2 Prozent des Bruttolohns gefallen waren und ab 2008 eine weitere Senkung auf 3,9 Prozent beschlossen war, wollte es Kurt Beck ursprünglich dabei belassen. Ohne weitere Begründung hatte dann allerdings der Hamburger Parteitag eine Senkung auf 3,5 Prozent angeboten. Was jedoch der Union immer noch nicht reichte, also landete die Koalition bei 3,3 Prozent. Wenn man sich auf die Rutsche begibt, gibt es eben kein Halten mehr. Das nenne ich einen Kompromiss nach dem Modell der "Merkel-Steuer": Die SPD hatte vor der Bundestagwahl 2005 eine erhöhte Mehrwertsteuer abgelehnt, die Union lediglich zwei Prozent mehr gewollt - die große Koalition war schließlich bei drei Prozent angekommen.

Nun geht es bei der Höhe der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht um eine heilige Kuh. Aber was ist von der Parole "mehr Netto vom Brutto" zu halten, wie sie der neue CSU-Chef Huber stolz verkündet? Zunächst einmal bringt der von 4,2 auf 3,3 Prozent reduzierte Beitrag nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit einen Einnahmeausfall von sieben Milliarden Euro. Man könnte einwenden, bei elf Milliarden Überschuss im Vorjahr und geschätzten sechs bis sieben Milliarden 2007 müsste das zu verkraften sein. Im Hintergrund aller "Sparbemühungen" der Bundesagentur stand jedoch von Anfang an die mit den Hartz-Gesetzen verfolgte politische Absicht, das Vertrauen der Arbeitnehmer in "ihre" Arbeitslosenversicherung gründlich zu erschüttern. Es galt die Logik, durch gekürzte Leistungen Druck auf die Arbeitnehmer auszuüben, jede Arbeit anzunehmen, zu jedem Preis und zu allen Bedingungen, weil ansonsten nach der kurzen Schonzeit des ALG I und der Aufzehrung des Angesparten die Bedürftigkeit - sprich: Sozialhilfe - drohte.

Das Gesetz beauftragt die Bundesagentur zwar nach wie vor, Arbeitslose und Qualifizierungswillige in Beschäftigung oder Ausbildung zu bringen, doch wurde dieser Auftrag schon unterlaufen, als man den um 0,3 Prozent angehobenen Beitrag zur Pflegeversicherung sachfremd mit dem gesenkten Beitrag für die Arbeitslosenversicherung verrechnete. Jeder Euro für die Überschüsse und jeder Euro Einnahmeausfall stehen für den gesetzlichen Auftrag nicht mehr zur Verfügung. Die BA hat in den zurückliegenden Jahren durch den so genannten Aussteuerungsbetrag den Bundeshaushalt mit jährlich etwa zehn Milliarden Euro subventioniert und ihre Überschüsse vorrangig aus Kürzungen bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen "erwirtschaftet". Besonders bei der großen Gruppe der schwer Vermittelbaren besteht inzwischen aber ein erheblicher Nachholbedarf genauso wie bei Notprogrammen für die wachsende Zahl junger Menschen, die in der Warteschleife für eine berufliche Ausbildung geparkt wurden. Nichts geschieht, man rühmt sich stattdessen lieber der Überschüsse und bietet dem Gesetzgeber Vorlagen für weiter gestutzte Beiträge.

Was bei der Bundesagentur an Einnahmen ausfällt, steht auch als Finanzreserve nicht mehr zur Verfügung, so dass die Frage erlaubt sein muss: Was passiert, wenn es zu einer Rezession kommt und wieder mehr Arbeitslose finanziert werden müssen? Das Szenario lässt sich leicht vorhersehen: Sollten die verminderten Einnahmen dann nicht mehr ausreichen, sind weiter gekürzte Leistungen für Arbeitslose angesichts der vorgenommenen Halbierung der Beiträge von 6,5 auf 3,3 Prozent programmiert. Nach der Kürzung hat die BA für 2008 schon ein operatives Minus von über fünf Milliarden Euro angekündigt. Vorsorglich hat deshalb der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales entschieden: Falls der beschlossene "Beitragssatz bis 2011 nicht ausreicht, solle die Bundesagentur für Arbeit (BA) keinen Bundeszuschuss als Ausgleich bekommen". Daraus wird deutlich: Vor allem der weitere Abbau der Arbeitslosen-"Versicherung" und nicht der "Lohnebenkosten" steht als Motiv hinter dem Beitragssenkungswahn. Das Argument "Lohnnebenkosten" dient allein einer ideologisch verbrämten Verschleierung der künftig notwendig werdenden weiteren Kürzung von Leistungen für Arbeitslose.

Ein teuflischer Pferdefuß

Auf rund 400 Euro beziffert CDU/CSU-Fraktionschef Kauder laut Financial Times Deutschland das Plus bei einem gesenkten Beitrag zur Arbeitslosenversicherung für den Durchschnittsverdiener und wird mit dieser kühnen Zahl ausgerechnet von der Bild-Zeitung bloßgestellt, die vorrechnet: Bei einem mittleren Bruttogehalt von 2.000 Euro im Monat bleiben gerade einmal neun Euro "netto übrig", rechnet man die Pflegeversicherung ab, sind es 6,50. Alle Umfrage bestätigen: Die Arbeitnehmer würden liebend gern auf dieses "Geschenk" verzichten, gäbe es dafür wieder eine bessere solidarische Risikoabsicherung.

Der "Kompromiss" beim verlängerten Bezug von ALG I hat ohnehin für die Betroffenen einen teuflischen Pferdefuß: "Wer Anspruch auf ein verlängertes Arbeitslosengeld hat, bekommt einen Eingliederungsgutschein, entweder gekoppelt mit einem konkreten Arbeitsangebot oder mit dem Auftrag, sich um dessen Einlösung zu bemühen", heißt es bei der SPD. Deutlicher wird da Volker Kauder: "Die Arbeitslosen erhalten einen Eingliederungsschein, den sie dann in einer konkreten Beschäftigung einlösen müssen." Erst wenn kein Arbeitsangebot da ist oder die Einlösung des Gutscheins nicht gelingt, erhält der einzelne Arbeitslose das verlängerte Arbeitslosengeld. Einen ähnlichen Vorschlag von Franz Müntefering hatte Kurt Beck kürzlich noch strikt zurückgewiesen. Die Formel lautet: Entweder du nimmst die angebotene Arbeit zu jedem Lohn und zu jeder Bedingung an oder der Bezug von Arbeitslosengeld I wird nicht verlängert.

Überdies gibt es bei der Finanzierung einer verlängerten Zahlung an ältere Arbeitnehmer noch erhebliche Ungereimtheiten. Laut Presseberichten sollen 270 Millionen Euro jährlich zur Finanzierung der höheren Kosten aus dem Bundeshaushalt fließen, rund 500 Millionen Euro soll die Bundesagentur für Arbeit aus ihrem Topf für die Wiedereingliederung von Arbeitslosen dazugeben. Die SPD spart in ihrer Darstellung des "Erfolges" die Finanzierung komplett aus. Um so mehr betont die Union, sie habe sich damit durchgesetzt, dass ein verlängerter ALG I-Bezug keine Mehrkosten bei der Bundesagentur verursachen soll.

Man muss sich wohl einen Verschiebebahnhof vorstellen: Der Bund transferiert, die Mittel, die er beim ALG II durch das verlängerte ALG I (bezahlt durch die Bundesagentur) spart. Ob dies tatsächlich in ein Nullsummenspiel mündet, ist völlig offen. Es wäre für die Koalition nicht das erste Mal, dass die Union einen beschlossenen "Kompromiss" mit der SPD über das Vehikel Finanzierung schleift. Die Absage der Kanzlerin an den gar schon im Kabinett abgesegneten Mindestlohn für die Briefzusteller ist nur das jüngste Beispiel für einen solchen "Wortbruch" (Andrea Nahles). Beim Mindestlohn zeigt sich im Übrigen, wie verbohrt die Unionsparteien agieren. Aber warum sollte es sich Frau Merkel auch mit dem Springer-Verlag verderben, der zu 65 Prozent an der PIN AG beteiligt ist?

Über die ihr erteilte brüske Abfuhr ist die SPD zu recht empört. Aber weshalb eigentlich hat sie ihrerseits nicht die Zustimmung zum Auslaufen des Briefmonopols in Frage gestellt, wenn ihr dieses Thema wirklich ernst ist?

Der Autor war von 1979 bis 1983 in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes, später Regierungssprecher unter Ministerpräsident Johannes Rau. Von 1996 bis 2000 Staatssekretär im Wissenschaftsministerium NRW.

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