Schöner neuer Osten

Kapitalismus Von China lernen, heißt siegen lernen. Selbst im demokratischen Westen sehnen sich viele nach der Effizienz der Parteidiktatur
Ausgabe 52/2019

Eigentlich war die Geschichte der Systeme doch schon zu Ende erzählt. Der liberal-demokratische Kapitalismus habe gesiegt, für immer: Das meinte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Westen insgesamt, der Politologe Francis Fukuyama schrieb es nur auf. Heute erscheint diese These angesichts der neuen Macht im fernen Osten wie aus der Zeit gefallen. Spätestens nach den Kriegen in Afghanistan und im Irak ist der Westen, genauer gesagt: die USA, geschwächt; gleichzeitig wurden jene liberalen Werte, die man zu verteidigen vorgab, zugunsten von Folter und Drohnenmorden unterminiert. Parallel zum moralischen Abstieg des Westens verlief der wirtschaftliche Aufstieg der baldigen Weltmacht China.

Zwischen 1990 und 2010 wuchs das chinesische Bruttoinlandsprodukt jährlich um etwa zehn Prozent. Und 2001 gewann, von der Öffentlichkeit relativ unbemerkt, die Welthandelsorganisation (WTO) mit China ein neues Mitglied, das sich für Direktinvestitionen aus dem Ausland öffnete und immer mehr Patente anmeldete. Maos Plan- und Agrarwirtschaft hatte das Land da längst aufgegeben. Fortgesetzt wurde stattdessen der Kurs von Deng Xiaoping, der die chinesische Wirtschaft maßgeblich „verwestlichte“, allerdings, und darauf kommt es an, ohne Souveränität abzugeben. Zwar existieren seit Jahren neben Staatsbetrieben erfolgreiche freie Unternehmer – vor allem im Bankensystem, in der Schwerindustrie und im Transportwesen. Sie machen circa ein Drittel der Wirtschaftsleistung aus. Doch letztlich unterstehen auch sie der Kommunistischen Partei und ihrem heutigen Vorsitzenden Xi Jinping. Der ließ die Begrenzung seiner Amtszeit unterdessen aufheben – was Donald Trump zu der Aussage verleitete: „Ich glaube, das ist großartig. Vielleicht sollten wir das eines Tages auch mal versuchen.“ Doch während Trump durch demokratische Hürden ausgebremst wird, ist Jinping in seinen Entscheidungen freier – weil es die Bürger nicht sind.

Westliche Demokratie? Lahm!

Der chinesische Präsident wird nicht nur von Trump beneidet, auch andere Politiker, Unternehmer sowie auch einige Intellektuelle erwärmen sich für ein System, das zwar eine Millionen Uiguren in Lager einsperrt und weder Presse- noch Kunstfreiheit duldet, aber entscheidungsfreudig und durchsetzungsstark ist. Mit dem weltumspannenden Projekt Neue Seidenstraße will das Land einzelne Staaten und ganze Kontinente durch Handelswege miteinander vernetzen. Herr über dieses Netzwerk, das 2050 ausgebaut sein soll, ist selbstverständlich die KP. Die EU hingegen schafft es nicht einmal, Internetplattformen für die Bürger zu errichten. Die nun von Wirtschaftsminister Peter Altmaier versprochene europäische Cloud Gaia kommt zu einer Zeit, in der US-Konzerne den digitalen Himmel zur Datenspeicherung längst unter sich aufgeteilt haben.

Selbst manche Klimaschutzaktivisten schielen nach China. Wird in Deutschland ein Klimapaket verabschiedet, das den Namen kaum verdient, denkt man dort groß und langfristig. 2030 sollen keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr neu zugelassen werden, gleichzeitig will man durch Geo-Engineering Schlimmeres verhindern. Dass der Umweltschutz mit der Unterdrückung vieler Bürger einhergeht, stört manche nicht, die primär den Planeten retten wollen und den Menschen als größte Gefahr für das Klima ansehen.

Ist die westliche Demokratie einfach zu langsam? Kann ein System, das alle vier Jahre neu gewählt wird, in dem Parteien miteinander koalieren müssen und jede Entscheidung ein Kompromiss ist, überhaupt mit den rasanten Veränderungen unserer Zeit schritthalten? Wo China Fünf-Jahres-Pläne bis 2050 veröffentlicht, steht hierzulande zunächst eine bevorstehende Landtagswahl im Zentrum. Wer an den BER denkt, reibt sich die Augen: Kürzlich wurde in Peking ein in nur vier Jahren gebauter Flughafen eröffnet, von dem 100 Millionen Passagiere abfliegen sollen. Dass diese Schnelligkeit ihren Preis hat, wird allerdings gern ausgeblendet. China ließ für den Flughafen kurzerhand 20.000 Menschen umsiedeln. Zwar gab es eine Entschädigung, aber: Es gab keine Diskussion.

Auf das Bonmot „Man kann kein Omelett zubereiten, ohne Eier zu zerschlagen“, mit dem man den Totalitarismus der Sowjetunion rechtfertigte, antwortete der kommunistische Schriftsteller Panait Istrati: „Ich sehe die zerbrochenen Eier, aber wo ist das Omelett?“ Doch auch diese Antwort scheint auf China nicht mehr recht zu passen. Hunderte Millionen Chinesen konnten sich aus bitterer Armut befreien, das Pro-Kopf-Einkommen lag 2016 bei 9.000 US-Dollar, auch steigen die Löhne stetig, sodass China nicht mehr als „Werkbank der Welt“ bezeichnet werden kann.

Xi Jingping weiß, dass die Regierung der Zukunft eine technizistisch-technokratische sein wird. Der machiavellistische Führungsstil wird derzeit um diverse Applikationen wie Gesichtserkennung oder das Social-Credit-System, bei dem digital über jeden Bürger und dessen Verhalten Buch geführt wird, erweitert. Der ehemalige China-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Kai Strittmatter, spricht von einer „smarten Diktatur“.

Doch ist China tatsächlich der dunkle Gegensatz zum sonnigen Silicon Valley? Natürlich scheint sich dessen libertäres Projekt auf den ersten Blick nicht mit dem autoritären Staatskapitalismus in China zu vertragen. Doch es ist nicht Xi Jinping, sondern Google-Mitgründer Larry Page, der sagt: „Es gibt eine Menge Dinge, die wir gerne machen würden, aber leider nicht tun können, weil sie illegal sind. Wir sollten ein paar Orte haben, wo wir sicher sind. Wo wir neue Dinge ausprobieren und herausfinden können, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben.“ Auch hier werden liberal-demokratische Werte durchaus als innovationshemmend empfunden. Das gilt ebenso für Europa.

Das französische Innenministerium etwa plant, mit der App Alicem den Bürgerinnen Zugang zu 500 Diensten der Verwaltung zu verschaffen. Statt mit einem Passwort sollen sich die Franzosen per Gesichtserkennung registrieren. Nicht ohne Grund befürchten Datenschützer, dass damit einem französischen Social-Credit-System der Weg bereitet wird. Westliche Unternehmer schielen neidvoll auf den erwachten Riesen im Osten, der mit KI-Technik und Biotechnologie einen neuen, gehorsamen Menschen kreieren will.

Häufig wird vergessen, dass Fukuyama nicht nur das Ende der Geschichte, sondern auch das des Menschen prophezeit hatte. Hier könnte er recht behalten, wenn er warnt: „Was geschieht mit den staatsbürgerlichen Rechten, wenn wir einmal imstande sind und es auch praktizieren, Menschen mit Sätteln auf dem Rücken zu züchten – und andererseits auch solche mit Stiefeln und Sporen?“ Mit westlicher Demokratie ist das unvereinbar; mit Chinas System, wo die Kluft zwischen Ethik und Gentechnik viel größer ist, vielleicht schon – es ist eine Frage der Hegemonie, wer in diesen Fragen nun wem folgen wird.

Orbán gefällt das

In ihrem lesenswerten Buch Das Licht, das erlosch zeigen Ivan Krastev und Stephen Holmes auf, dass die Zeiten vorbei sind, in denen der Westen von anderen Staaten nachgeahmt wird. Zwar eignete man sich in China westliches Wirtschaften an, doch das damit verbundene Wertesystem übernahmen weder Deng noch Xi. Im Gegensatz zum Kommunismus sei Chinas Autoritarismus keine Ideologie, wenden Krastev und Holmes jedoch ein: „Anders als der Westen erweitert China seinen weltweiten Einfluss ohne das Ziel, die Gesellschaften zu transformieren, über die es Macht ausüben will.“

Und hier irren sie sich womöglich. Vielmehr könnte China, ganz ohne Predigten auf den Konfuzianismus oder gar Xi Jinping, durchaus ideologisch wirksam sein – und zwar als Vorbild, das zeigt, dass es auch ohne Demokratie geht. Nicht zufällig schottet Viktor Orbán Ungarn zwar vor Migranten ab, öffnet sich aber gegenüber China. Zugleich macht die Europäische Union wenig Anstalten, sich demokratischer aufzustellen. Ganz zu schweigen von dem neoliberalen Mantra, wonach die Schuldenbremse, die Liberalisierung der Finanzmärkte und der Sozialstaatsabbau „alternativlos“ seien. Genau aus dieser ideologischen Warte heraus wird mit dem chinesischen System geliebäugelt: Denn hinter dem vermeintlich ideologiefreien Autoritarismus steckt der Kapitalismus, dem China gerade ein Update verpasst. Dieser konnte in der Vergangenheit immer wieder von autoritären Regimen profitieren, um zu expandieren.

Der sehnsüchtige Blick nach China erkennt den Kapitalismus als „the only game in town“ an. Es könnte sein, dass in diesen Zeiten das konsequente Eintreten für eine echte Demokratie und die Foucault’sche Forderung, „nicht dermaßen regiert zu werden“ – etwa: durch künstliche Intelligenz und Gesichtserkennung –, per se schon antikapitalistisch ist.

Wolfgang M. Schmitt ist Filmkritiker sowie Literaturwissenschaftler und betreibt zusammen mit Freitag -Autor Ole Nymoen den Wirtschaftspodcast „Wohlstand für Alle“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden