Als der deutsche Medienwissenschaftler Martin Schlesinger 2005 ein Auslandssemester in der brasilianischen Metropole Belo Horizonte absolviert, ist es zunächst nur ein irritierendes Gefühl: Es ist so eng hier. Die Zimmer sind manchmal kaum größer als ein Doppelbett. Auch in Städten wie São Paulo oder Rio de Janeiro, in die ihn mehrere Forschungsreisen in den kommenden Jahren führen werden, spürt er diese Enge. Dabei ist Brasilien 23,8 Mal so groß wie Deutschland, eigentlich genügend Platz für 211 Millionen Einwohner. Jedoch leben circa 86 Prozent von ihnen in Städten, hinzu kommt die Ungleichheit, die sich unter dem rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro noch weiter verschärft haben dürfte.
Schlesinger sieht seinen persönlichen Eindruck bald gespiegelt im brasilianischen Kino, das er seit 15 Jahren erforscht und dem er jetzt die beeindruckende Studie Bilder der Enge. Geschlossene Gesellschaften und Räume des brasilianischen Films gewidmet hat. Während viele Wissenschaftler Wert darauf legen, die eigene Subjektivität verschwinden zu lassen, sagt Schlesinger immer wieder „ich“, nicht um zu relativieren, sondern um den Leser teilhaben zu lassen am Prozess des Sehens, Erkennens und Theoretisierens. Jener beginnt zunächst in Europa, wenn der Begriff der Enge in einen Dialog mit Filmtheorien von Gilles Deleuze oder André Bazin gebracht wird.
Mit diesem Rüstzeug im Gepäck reisen wir nach Brasilien, das seit Ende der 1950er-Jahre unter Cineasten international bekannte Namen wie Glauber Rocha oder Arnaldo Jabor hervorbrachte, wenngleich Schlesinger hauptsächlich Werke der vergangenen zwei Jahrzehnte analysiert. In Fernando Meireilles’ Film Die Stadt der Blinden von 2008 verlieren die Bürger einer nicht genannten, unwirtlichen Stadt ihr Augenlicht, was nach der bedrückenden Enge in Quarantäne aber letztlich eine neue Möglichkeit des Zusammenlebens eröffnet.
Katzentisch für’s Personal
Im 2012 erschienenen Debüt Von großen und kleinen Haien von Kleber Mendonça Filho scheint es hingegen komfortabler zu sein: Massive Betonarchitektur umgibt die Mittelschicht in einem Stadtviertel von Recife, doch es „verdichten sich gesellschaftliche, ökonomische, mediale und affektive Eigenheiten eines spezifisch brasilianischen Lebenskosmos mit Elementen, die man normalerweise aus dem Horror-Genre kennt“, schreibt Schlesinger. Die Situation vieler Bewohner verengt sich zunehmend, da ein alter Patriarch, dem die Wohnkomplexe gehören, ein brutales Gentrifizierungsprojekt vorantreibt. Überdies prägt Vereinzelung die Szenerien: „Der Patriarchalismus ist ein einsamer“, erklärt Schlesinger, oft leisten einzig dunkelhäutige Hausangestellte erkaufte Gesellschaft. Deren beengtes Leben rücken vermehrt junge Filmemacher immer häufiger in den Fokus.
In Anna Muylaerts Der Sommer mit Mamã, der 2015 auf der Berlinale den Publikumspreis gewann, will Haushälterin Val, die sich um das luxuriöse Anwesen eines Ehepaares kümmert, selbst aber auf engstem Raum lebt, ihre Tochter Jéssica bei sich aufnehmen, um ihr ein Architekturstudium zu ermöglichen. In solchen Werken, arbeitet Schlesinger präzise heraus, gehe es nicht nur darum, sich „aus räumlichen Engen, sondern auch aus den Engführungen patriarchalischer Mächte, Gelüste und Blickstrukturen zu befreien“. Muylaerts Film, der zunächst wie eine typische Sommerkomödie für ein frühpensioniertes Arthouse-Publikum wirkt, liefert eine differenzierte Analyse zu Klasse und Geschlecht in der brasilianischen Gesellschaft. Während Val noch wie eine Dienerin der alten Schule agiert und unterwürfig die Klassenschranken als quasi-naturgegeben zu akzeptieren scheint, ist ihrer Tochter, die ehrgeizig eine Karriere anstrebt, diese Demut fremd. Als sie in das Haus der reichen Herrschaften zieht, will sie nicht mit ihrer Mutter in der Dienstbotenkammer schlafen, schließlich stehe doch das prächtige Gästezimmer ohnehin frei. Vater Carlos, ein reicher Erbe und melancholischer Künstler, willigt ein – nicht ohne Hintergedanken. Hingegen zeigt sich Hausherrin Bárbara irritiert: Sie ist eine Vertreterin des „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser), der gutsituierten Frauen Aufstieg und Emanzipation ermöglicht, zum Preis aber, dass Frauen wie Val am Katzentisch im Nebenzimmer Platz nehmen müssen, während Bárbara mit den Ihren diniert. Anna Muylaert erzählt diesen Konflikt vor allem durch die Inszenierung von Räumen: Reich zu sein bedeutet Platz zu haben. Je mehr die Kamera bei Val verharrt, desto stärker verengen sich die Räume, trennen Wände und Fenster die Hausangestellte von jenen, die besitzen.
Bislang war der Begriff der Enge keine filmtheoretische Kategorie, Schlesinger gibt uns mit seiner hervorragenden Studie nun eine neue medienwissenschaftliche Brille zur Hand, die wir nicht nur mit Blick auf das brasilianische Kino aufsetzen sollten. Zu fragen, wie eng oder weit filmische Räume sind, fördert viele Antworten über soziale und ökonomische Aspekte zutage. So wundert es nicht allzu sehr, dass deutsche Komödien häufig dort spielen, wo ihre Macher zuhause sind: im Loft oder Landhaus. Beispielhaft dafür ist die witzlose, sich minimalistisch gebende Komödie 100 Dinge. Darin verzichten Matthias Schweighöfer und Florian David Fitz, die glaubhaft zwei Start-up-Heinis spielen, zwar auf allerlei Luxusgegenstände, nur ihre mehrere Hundert Quadratmeter große Wohnung mit Blick über Berlin verlassen sie natürlich nicht.
Wie wichtig der Kampf um Wohnraum inzwischen ist, haben nicht nur brasilianische Filme erkannt. Auch der Oscar-Gewinner Parasite ist letztendlich ein Thriller über Menschen, die der Enge ihrer Kellerwohnung entkommen wollen. Der Film hat jedenfalls die Möglichkeit, zur Politisierung des Raumes und der Wohnungsfrage beizutragen, denn, erklärt Schlesinger: „Der Film kann als das privilegierte Medium der Enge betrachtet werden. Kein anderes besitzt die akustischen und visuellen Möglichkeiten, um enge Wirklichkeiten wahrnehmbar zu machen.“
Info
Bilder der Enge. Geschlossene Gesellschaften und Räume des brasilianischen Films Martin Schlesinger Transcript Verlag 2021, 330 S., 45 €
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