Aufstand der Zwerge

Zentralismus In der Krise wird die Macht der Länder immer weiter ausgehöhlt. Das freut Berlin, schadet aber unserer Demokratie
Ausgabe 47/2020
Kann den Corona-Kurs der Bundesregierung nur schwer ertragen: Bodo Ramelow
Kann den Corona-Kurs der Bundesregierung nur schwer ertragen: Bodo Ramelow

Foto: Karina Hessland/Imago Images

Die „Corona-Klatsche für Merkel“ (Bild) war – um es in der Sprache der Verfassungsjuristen auszudrücken – angemessen, geeignet und erforderlich. Denn der Aufstand der Länder im Streit um die effektivste Corona-Strategie war diesmal nicht nur der Unverschämtheit des Kanzleramts geschuldet, den Ministerpräsident*innen eine unausgegorene Beschlussvorlage vor den Latz zu knallen, mit der Ansage: Fresst das oder schert euch zum Teufel! Nein, der Aufstand hatte ein ernstes verfassungsrechtliches Motiv. Die Länder, so Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow, „sind nicht die nachgeordnete Dienststelle des Kanzleramts“.

Leider doch. Seit Jahrzehnten erleiden die Länder einen schleichenden Bedeutungsverlust. Der Bund und die Europäische Union haben ihnen durch zahlreiche „Föderalismusreformen“ und EU-Richtlinien fast sämtliche Kompetenzen abgeknöpft. Zuständig sind sie nur noch für Gaststätten, Heime und Ladenschluss, für Messen, Märkte und Ausstellungen, für Versammlungsrecht, Polizei und Katastrophenschutz und – immerhin! – für Bildung und Kultur. Exakt in diesen Bereichen aber will der Bund nun weitere Kompetenzen an sich ziehen und maßt sich in unverfrorener Weise an, bis in die hintersten Klassenzimmer der Dorfschulen hineinzuregieren. Die Bundesländer, das ist die bittere Wahrheit, haben nur mehr den Status größerer Verwaltungseinheiten mit angeschlossenen Parlamenten, die wenig bis nichts zu sagen haben.

Diesen Bedeutungsverlust kompensieren die Länderchefs durch ihr markiges Auftreten im Bundesrat, den sie zu einer Art Exekutiv-Opposition zweckentfremden, was im Ergebnis zu gegenseitigen Blockaden und gesamtpolitischer Entscheidungsschwäche führt.

Die Gereiztheit der Ministerpräsidenten angesichts der Durchgriffsabsichten des Bundes ist also nachvollziehbar. Der Bund seinerseits hat die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass er das starre und bisweilen starrsinnige institutionelle Machtgefüge der Bundesrepublik nur dann zu seinen Gunsten verschieben kann, wenn zwei Ausnahmezustände gleichzeitig eintreten: Es muss eine Notlage „von nationaler Tragweite“ existieren, und es braucht eine Regierung der Großen Koalition dafür. Nur wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, ist es möglich, die andere Seite mit hastig getroffenen Entscheidungen, deren Auswirkungen nicht sofort von allen verstanden werden, zu überrumpeln und die erforderlichen Zweidrittelmehrheiten zu beschaffen. So nötigte der Bund die Länder in der Finanzkrise zur Einführung der Schuldenbremse und beschnitt damit ihren politischen Gestaltungsspielraum; so wurde dem Bundesgesundheitsminister in der Corona-Krise quasi über Nacht per Ermächtigung die Möglichkeit eingeräumt, ohne Mitwirkung des Bundesrats oder des Bundestags durch Notverordnungen in die Angelegenheiten der Länder einzugreifen, geltende Gesetze per Ausnahmeregelung zu umgehen und Grundrechte selbstherrlich einzuschränken. Die Einführung der Notstandsgesetze im Mai 1968 wurde weit weniger gelassen hingenommen.

Da die Proteste aber gering sind, sieht die Kanzlerin den Aufstand der Länderchefs gelassen. Mitte Oktober, als sich die Ministerpräsidenten schon gegen schärfere Maßnahmen sträubten, sagte sie: „Dann sitzen wir eben in zwei Wochen wieder hier.“ Genau so kam es. Am vergangenen Montag dann, als der jüngste Corona-Gipfel gescheitert war, wiederholte sie trocken: „See you next week.“ Wir sehen uns bald wieder. Dieses Spiel – der Bund drückt aufs Tempo, die Länder bremsen – kann Merkel endlos fortsetzen, denn die Schuld für ein Pandemie-Desaster liegt dann automatisch bei den Ländern und ihren uneinsichtigen Ministerpräsidenten.

Aber ist deren Empörung wirklich nur auf die nahende Bundestagswahl und auf den Umstand zurückzuführen, dass sich potenzielle Kanzlerkandidaten und Parteigrößen noch schnell profilieren müssen? Haben die „Landesfürsten“ nicht auch inhaltlich recht, wenn sie in diesem asymmetrischen Krieg gegen das Coronavirus die „flexible response“ (die flexible Erwiderung) der „massiven Vergeltung“ vorziehen? Braucht es wirklich einheitliche und möglichst grobschlächtige Regeln für alle, um Hotspots und Cluster einzudämmen? Braucht es gar eine zentrale Oberste Heeresleitung, die von oben nach unten durchkommandiert?

Für viele Linke ist das eine nicht ganz leichte Frage. Denn Linke sind – historisch betrachtet – in der Wolle gefärbte Zentralisten und Gleichheitsanhänger. Wie einst Karl Marx. Erst im Lauf der Jahrzehnte wurden sie, aufgrund bitterer Erfahrungen, zu überzeugten Regionalisten und Dezentralisten, deren Aufgabe es ist, die Zentralmacht einzuhegen und Entscheidungen nach unten zu verlagern, am besten zu den Bürgern selbst. Auch hier zeigt Bodo Ramelow einen gangbaren Weg, indem er feststellt: „Wenn neue Regeln nötig sind, dann nur mit Parlamentsentscheidungen.“ Das heißt, die Frage ist weniger, ob sich der Bund oder die Länder mit ihren Vorschlägen am Ende durchsetzen, wichtiger ist, beide daran zu hindern, ihre Parlamente ins Abseits zu drängen und der Exekutive einen Freibrief auszustellen. Die Mehrheit der Bevölkerung will keine autoritäre Anordnungspolitik, sondern eine begründungspflichtige parlamentarische Demokratie.

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

Wolfgang Michal

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