Aus der Geschichte lernen

#aufstehen Im Land der Bedenkenträger wird es eine linke Sammlungsbewegung schwer haben. Doch einen Versuch ist sie allemal wert
Ausgabe 32/2018
Umfragen zufolge könnte eine „Liste Sahra Wagenknecht“ bis zu 25 Prozent der Stimmen erhalten
Umfragen zufolge könnte eine „Liste Sahra Wagenknecht“ bis zu 25 Prozent der Stimmen erhalten

Foto: Becker&Bredel/Imago

Nun ist sie gestartet, die lange angekündigte „linke Sammlungsbewegung“. 48 Stunden nach Freischaltung der Webseite aufstehen.de hatten sich bereits 36.000 Unterstützer online registriert. Der Wunsch nach Veränderung ist offenbar stark.

Das Ganze sei eine „Kopfgeburt“, sagen jene, die gern verdrängen, dass jede Bewegung als Kopfgeburt beginnt. Ein Bedürfnis steigt vom Bauch in den Kopf – und der Kopf verlangt nach Konsequenzen. In dieser Frühphase befindet sich das Projekt #aufstehen. Das sollten sich alle, die eine „Gründung von oben“ beklagen, durch den Kopf gehen lassen. Sie verkennen, dass eine „linke Alternative“ längst populär ist. Umfragen zeigen, dass eine „Liste Sahra Wagenknecht“ bis zu 25 Prozent der Stimmen erhalten könnte. Ob eine solche „Bewegung“ auch den Kriterien der Politikwissenschaft für „soziale Bewegungen“ entspricht, dürfte dann zweitrangig sein.

Bewegungen funktionieren heute nicht mehr wie 1971ff (Frauen), 1974ff (Umwelt) oder 1979ff (Frieden). Heute genügt schon „eine Mischung aus unkonventionellem Politikstil und moderner digitaler Infrastruktur, klassischen sozialen Forderungen und ungewohnten Gesichtern“, wie Sahra Wagenknecht und Bernd Stegemann jüngst feststellten. Die gute alte Latsch-Demo wird von einem millionenfach geteilten Twitter-Hashtag ersetzt, aus einer Whatsapp-Gruppe kann eine Selbsthilfe-NGO oder eine „Bewegungs-Partei“ hervorgehen. Diese neuen Formen der Organisation mögen kurzlebig und zerbrechlich sein, doch in Italien, Frankreich und Spanien sitzen sie derzeit in der Regierung. In Deutschland, im Land der Bedenkenträger, wird es eine linke Sammlungsbewegung nicht leicht haben. Ihre Gegner sind zahlreich und eloquent. Mit Häme und Popcorn schauen sie von der Seitenlinie aus zu, wie sich die Sammler abmühen. Manche schleudern Bannflüche, schlagen in Panik um sich, spenden vergiftetes Lob. Ihr Ziel ist es, das Projekt kaputtzureden oder für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Statt die Chance der Bewegung zu erkennen, hören wir, warum das Ganze ein falscher Ansatz für linke Erneuerung ist.

Teile der Linkspartei halten das Projekt gar für „Energieverschwendung“. Sie fürchten, die Fraktionsvorsitzende Wagenknecht werde die eigene Partei mit ihrem Ehrgeiz spalten und weit hinter die mühsam erreichten, aber erstaunlich stabilen zehn Prozent der Wählerstimmen zurückwerfen.

Die Wortführer der SPD ängstigt der zermürbende Kampf um die linke Vorrangstellung. Also versuchen sie, die Initiatoren der Bewegung als „notorische Separatisten“, „linke Spieler“ und mediengeile „Egomanen“ abzustempeln. „Aufstehen“, so der alte SPD-Kämpe Klaus Staeck, sei „der Versuch einer Umschichtung innerhalb des linken Lagers, ein Frontalangriff gegen die Sozialdemokratie“.

Humanistisch orientierte NGOs und linksradikale Splittergruppen geißeln wiederum den angeblichen Nationalismus der „pseudolinken“ Bewegung und werfen „Lafoknecht“ Liebedienerei gegenüber rechten Parolen vor.

Die Konservativen diesseits und jenseits der Union, allen voran die Springer-Presse, begleiten das Projekt Aufstehen mit überraschend viel Wohlwollen und schmeichelhaften Umfragen. Von einer linken Sammlungsbewegung versprechen sie sich das Aus der Dauer-Regierungspartei SPD und eine bürgerliche Koalition ohne Merkel.

Die ganz Rechten schließlich klatschen den gefürchteten Beifall von der falschen Seite. Jürgen Elsässer, Chefredakteur des Compact-Magazins, erhofft sich italienische Verhältnisse: „Die AfD hätte dann endlich einen Koalitionspartner ... In Italien koaliert ja gerade auch eine Rechtspartei, die Lega, mit einer Wagenknecht-ähnlichen Querfronttruppe (Fünf-Sterne-Bewegung). Also, Sahra, trau dich!“

Schließlich wäre da noch die Geschichte. Nicht einmal Hitlers Machtergreifung und der Terror der Nazis schafften es, die ewig zersplitterte Linke zu einen. 1935/36 versuchten geflüchtete Sozialdemokraten, Kommunisten, Linkssozialisten und Zentrumspolitiker, im Pariser Hotel Lutetia eine antifaschistische „Volksfront“ zustande zu bringen. Der junge Willy Brandt zählte als Vertreter der linken SPD-Abspaltung SAP zu diesem „Lutetia-Kreis“. Der Schriftsteller Heinrich Mann fungierte als überparteilicher Schirmherr. Und der umtriebige kommunistische Verleger Willi Münzenberg organisierte diskret die Treffen. Nach endlosem Palaver scheiterte der ambitionierte Versuch an unüberwindbaren Differenzen. Die Taktiken der Komintern, die Moskauer Prozesse gegen „Linksabweichler“ und der Hitler-Stalin-Pakt führten zum endgültigen Bruch. Seit mehr als 100 Jahren prägen Misstrauen, Schulmeisterei und Eifersucht das Verhältnis der Linken untereinander. Alle wollen Koch, keiner will Kellner sein.

Man könnte jetzt einwenden, die Sowjetunion „isch over“. Die Motive des Bruderkriegs sind entfallen. Doch lange wird es nicht dauern, bis der alte Vorwurf der Fernsteuerung auch gegen Wagenknechts Sammlungspolitik erhoben wird. Die Einflussagenten Putins stehen als neue Komintern bereit.

Nein, es wird nicht leicht sein, unter diesen Umständen eine linke Sammlungsbewegung zustande zu bringen. Doch einen Versuch ist es allemal wert. Man könnte ja ausnahmsweise mal aus der Geschichte lernen.

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

Wolfgang Michal

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