„Diesem Anfang wohnt kein Zauber inne“, schrieben die Leitartikler vergangene Woche. Mit rückwärtsgewandten Scheingefechten um Armut, Islam und Abtreibung sei der Start der neuen GroKo missglückt.
Genau das aber könnte deren Erfolgsrezept sein: Scheindebatten zulassen, während der Apparat weiterregiert wie bisher. Für die Opposition im Bundestag und die Zuschauer an den Endgeräten wird das Stück „lebendige Demokratie“ aufgeführt. Die Regieanweisung steht ganz vorn im Koalitionsvertrag: „Wir streben einen politischen Stil an, der die öffentliche Debatte belebt, Unterschiede sichtbar lässt und damit die Demokratie stärkt.“ Soll heißen: Bevor die Opposition echten Streit anzetteln kann, fliegen in der Regierung schon die Fetzen. CDU, CSU und SPD werden ihr Ringen um Profil als „offene“, „ehrliche“ und „transparente“ Politik verkaufen. Man könnte auch sagen: Sie tun ein bisschen so, als ob sie unterschiedlicher Meinung wären.
Die Als-ob-Methode funktioniert auch in umgekehrter Richtung: Alle Regierungsparteien versprechen, die „soziale Spaltung zu überwinden“ und „den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken“. Keine Phrase war zuletzt häufiger zu hören. Zum Beweis wird die neue Bundesfamilienministerin Franziska Giffey ins Rampenlicht geschoben. Doch in Wahrheit unternimmt die Regierung so gut wie nichts gegen die Spaltung. Bis heute versteht sie nicht, warum sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen 20 Jahren – unter SPD- wie CDU-Regierungen – so weit geöffnet hat. Sie verdrängt die Zusammenhänge. Als die Gehälter des VW-Vorstands 2017 um 25 Prozent stiegen, ging das nur, weil VW in Deutschland für den Dieselbetrug nie belangt wurde. Als der vierköpfige Vorstand des Axel-Springer-Konzerns für 2017 31,7 Millionen Euro einstreichen konnte, schusterte ihm die neue GroKo auch noch eine Senkung der Sozialabgaben für Zeitungsausträger zu. Deren Mini-Renten werden jetzt noch kleiner ausfallen. Als Wundpflaster verteilt Arbeitsminister Hubertus Heil ein paar Lohnzuschüsse.
Die Regierung erklärt, sie wolle, um die Demokratie vor den Autokraten dieser Welt zu retten, „mehr Verantwortung übernehmen“. In Wirklichkeit folgt sie nur den NATO-Vorgaben. Der Etat der Bundeswehr steigt bis 2021 um 14 Prozent auf 42,2 Milliarden Euro, die Auslandseinsätze werden ausgeweitet, die Rüstungsexporte an die Krieg führenden Nicht-Demokratien Saudi-Arabien und Türkei laufen unbehindert weiter. Deutschland darf sich nicht „wegducken“, sagt Außenminister Heiko Maas.
Nach außen wollen die Regierungsparteien zu Demokratiebelebungszwecken den Eindruck erwecken, sie seien grundverschieden, doch in Wahrheit sind ihre Funktionseliten zu einer soliden Mittepartei verschmolzen. Dieser Mitte geht es weniger um ein sozialeres und demokratischeres Europa als um die Wahrung deutscher Interessen. Welchem EU-Projekt der Vorzug gegeben wird – der Schaffung einer gemeinsamen Interventionsarmee mit angeschlossener Grenzschutzpolizei (Fürsprecher: von der Leyen/Seehofer) oder der Schaffung eines Europäischen Währungsfonds, der Kredite nur an Staaten vergibt, die sich zu „inneren Reformen“ verpflichten (Fürsprecher: Scholz) –, ist dabei nebensächlich. Solange uns neue Scheindebatten in Atem halten, wird nicht weiter auffallen, dass es den GroKo-Parteien um das Gleiche geht: ein möglichst deutsch geführtes Europa.
Kommentare 6
Dieser neuen Einheitspartei gehören doch Grüne und FDP ebenfalls an, weite Teile der LINKEN und der AfD passen aktuell und künftig bestens hinein. Der Kapitalismus hat genau die Parteien verfügbar, die zur Systemerhaltung benötigt werden, die regelmäßiges Wahltheater aufführen, den latenten Sozialabbau unter verlogenen Reformfahnen predigen oder mit Kulissennörgelei doch klammheimlich befürworten und mit vielerlei Gesetzgebung die aufmüpfigen Bürger in Schach halten. Wie sangen einst die Bonzen der SED: "Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!"
Zumindest SPD und CSU sind fraglos immer noch grundverschieden. Daran ändert auch ein Koallitionsvertrag wenig. CDU und SPD schweißt selbiger dagegen natürlich fest zusammen. Das Volk will eine stabile Regierung.
Quertreiber werden sofort zurechtgewiesen und konsequent kaltgestellt, wenn sie nicht einlenken. Interessanterweise diszipliniert aber, gerade unter Angela Merkel, viel stärker die Presse die Quertreiber als die Partei- oder Fraktionsführer.
Ich frage mich immer, was das Geschwafel von der "Mitte" soll. Es gibt keine politische Mitte.
Was es gibt sind Kriegsgewinnler aller Art quer durch das komplette politische Spektrum. D.h. im Jargon des Abwertens und Simplifizierens: von links bis rechts (was es eigentlich auch nicht gibt und nur Ablenken soll).
Was es gibt sind Aufklärerische, Kritische, Emanzipative, Fortschrittliche, Weltoffene, Feministische, Neugierige, Wissenschaftliche, Denkerische
und Völkische, Rassisten, Nationalisten, Faschisten, Nazis, Gewaltverherrlicher, Psychopathen, Soziopathen, Intellektuellenhasser, Fremdenhasser, Frauenhasser, Frauenfeinde, Antisemiten
und jede Menge Nichtswissende, Unaufgeklärte, Mitläufer, Mitschwimmer, Radfahrer, Duckmäuser, Feiglinge, Haltungslose, Rückgratlose, Kanonenfutter, Abkassierer, Halsbschneider, Kriegsgewinnler usw...
Aber wo sich da eine "Mitte" befinden soll ist mir echt schleierhaft?
Evtl. ist es ja das Codewort für "analfixierte Lebensweise"?
Also ich muss ehrlich sagen, das ist nun wirklich nicht so neu.
Gleich nach 1990 habe ich in Bonn-Königswinter an einem Projekt teilgenommen, dass sich "Frauen ins Politische Ehrenamt" nannte. Und dort hat nicht nur ein Referent auf zwei Dinge verwiesen:
1. Die Koalitionsfähigkeit der Partein untereinander (damals war noch keine AfD im Parlament)
2. Und darauf, dass die beiden großen Volksparteien sich eigentlich nicht wesentlich unterscheiden. Die eine - die traditionell linke SPD - ist auf soziale Gerechtigkeit fokussiert und die CDU auf mehr wirtschaftliche Kompetenz, mehr Unternehmernähe, hat aber auch einen arbeitnehmerfreundlichen Flügel.
Worin die sich unterscheiden ist eher das Milieu, die Traditionen, aber sonst...
Aber das war auch damals nichts Neues für Leute, die das politische Systems kritisch betrachten.
Wenn mans genau betrachtet, scheint das auch am Ende nicht mal die politischen Parteien selbst allzu sehr zu beschweren. Beide große Parteien sind ja fast manisch bestrebt, die Mitte zu behalten. Vor allem aber die SPD will - um Himmelswillen - nicht zu weit nach links driften. Und es war ihr Hartz IV-Sündenfall, der die Partei weit weg von wirklich linken Zielen getragen hat. Deshalb finde ich es schon sehr heuchlerisch, wenn die immer über die CDU jammern, die zu weit nach links gegeangen sei.
@ karamasoff: "Ich frage mich immer, was das Geschwafel von der 'Mitte' soll. Es gibt keine politische Mitte."
Der Begriff gehört zur neoliberal-konservativen Volksverdummung. Die meisten Menschen mögen keine Extreme. Die "Mitte", das klingt irgendwie nach Ausgewogenheit, nach sozialer, ökonomischer und gesellschaftlicher Harmonie.
Wer sich selbst zur "Mitte" zählt, möchte zur Gesellschaft dazugehören. Niemand will in der real existierenden kapitalistischen Gesellschaft von "Mutti" Merkel z. B. zu den ökonomischen Verlierern gehören. Auf der anderen Seite zählen sich selbst Menschen, die 250.000 Euro brutto und mehr im Jahr verdienen und eine Ferienvilla auf Sylt haben, zur gesellschaftlichen Mitte, obwohl das jährliche Brutto-Durchschnittsgehalt eines Vollzeitbeschäftigten 2017 mit irgendwas zwischen 40.000 und 50.000 Euro erheblich darunter liegt. Viele Deutsche verdienen natürlich nicht einmal das, das hat der Durchschnitt so an sich, außerdem werden beim statistischen Bundesamt Monatsgehälter über 18.000 Euro von Haus aus unter den Teppich gekehrt. Was für das Einkommen gilt, gilt analog für das Vermögen und Einstellungen zu anderen politischen Themen (Asylpolitik, Innere Sicherheit, Umweltschutz usw.).
Deshalb ist der Begriff der "Mitte" in der öffentlichen Meinungsbildung von Bedeutung. Parteien, die angeblich Politik für die "Mitte" machen, gaukeln der Öffentlichkeit vor, Politik für die Mehrheit der Bevölkerung zu machen, eine ausgewogene Politik für die breite Masse, eine Politik für den "Durchschnittsbürger", auch wenn sie bei Lichte betrachtet tatsächlich eine höchst einseitige Politik für die oberen Zehntausend machen.
Vergleicht man die real existierende aktuelle Politik mit der Politik der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, dann wird offenbar, wie weit diese sog. Mitte inzwischen nach rechts gewandert ist.
Und wer alles in Deutschland Politik für die Mitte macht. Von den sogenannten "christlichen" Parteien CDU/CSU, die seit 1960 angeblich Politik für die "Mitte" machen, über die SPD ("Die neue Mitte.") bis hin zur FDP ("Die Mitte entlasten.") und sogar der AfD. Eine Ausnahme sind naturgemäß die "Linken", die dies aufgrund ihres Parteinamens nicht können. Der Name hat psychologisch schlechte Karten und darum geht es bei dem Begriff der "Mitte", um Psychologie oder besser gesagt, um Volksverdummung.
Zwischen oben und unten gibt es eine Mitte:
Einerseits Kleinbesitzer, von der lässig mit Milliarden spielenden Grossbesitzerklasse ebenso weit entfernt wie von der besitzlosen Arbeitskraftverkäuferklasse. Immer in der Angst vor Konkurrenz der Grosskonzerne wie auch in der Angst vor einer sich wieder stärker formierenden und streikfähigen Unterklasse.
Andererseits die Spitzen der Dienerhierarchien: Eigentumsmässig weit entfernt von der Oberklasse, einkommensmässig weit entfernt von der Unterklasse. Von oben unter Karrierestress gesetzt, von unten von vermeintlichem Neid bedrängt.
Das ist die gesellschaftliche Mitte wie sie lebt und strebt und jammert, schimpft & geniesst.