Vorsitzender der SPD ist das schönste Amt neben dem des Papstes, schwärmte Franz Müntefering 2005. Denn jeder SPD-Vorsitzende ist immer zugleich Stellvertreter August Bebels auf Erden. Münteferings Satz beschreibt Anspruch und Fallhöhe des Amtes.
Der Vergleich mit dem Heiligen Vater ist aber auch deshalb bemerkenswert, weil viele SPD-Vorsitzende der Teufel holt. Sie werden entmachtet, weil ihre Leistungen dürftig sind. Weil man sie nicht mehr erträgt. Manche gehen von der Fahne, andere ziehen sich zurück, einige starten Rachefeldzüge. Sigmar Gabriel, der dünnhäutigste und hellsichtigste unter ihnen, sagte, als seine Genossen an ihm herummäkelten: „Ich schreibe in mein Testament, dass man mich ausstopfen darf, dann darf man mich in den Keller des Willy-Brandt-Hauses stellen und immer, wenn ein Schuldiger gesucht wird, dürfen sie mich rausholen.“
So ist er, der Siggi. Ein selbst ernanntes Opferlamm, stets beleidigt, wenn ihn jemand „grundlos“ kritisiert. Er sieht einfach kein Problem darin, einem Ausbeuter wie dem Fleischfabrikanten Clemens Tönnies zu helfen. Er sieht auch keinen Widerspruch zu den Grundwerten der SPD. Das ist ungefähr so, als wäre Papst Benedikt XVI. nach seinem Amtsverzicht Aufsichtsrat bei der Vatikanbank geworden, wo er gnädig darüber hinweggesehen hätte, wie die italienische Mafia ihre lateinamerikanischen Kokain-Einnahmen einer Geldwäsche unterzieht. Die Kernfrage in der Causa Gabriel lautet deshalb: Wie ist es möglich, dass ehemalige SPD-Vorsitzende zu geldgierigen Absahnern werden?
Natürlich hat es schon immer Seitenwechsler gegeben, Genossen, die das SPD-Ticket nutzten, um Karriere in der Wirtschaft zu machen. Aber das spielte sich meist in der dritten oder vierten Reihe ab. Vorsitzende, die im Rampenlicht standen, wussten, was sie „den kleinen Leuten“ schuldig waren. Auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt. Von Ex-Vorsitzenden der SPD erwartete man ehrenamtliches Engagement, souveränes Eintreten für Benachteiligte und kluge Reden.
Doch um die Jahrtausendwende, genauer gesagt: mit der neoliberalen Wende der SPD unter Gerhard Schröder vergaßen manche Vorsitzende die Würde des Amtes und ließen schon mal den Larry raushängen. Das lag keineswegs an ihrer „Herkunft aus kleinsten Verhältnissen“, wie uns manche Küchenpsychologen weismachen wollen. Auch Brandt stammte aus kleinen Verhältnissen, entwickelte aber ein untrügliches Gespür für guten Stil. Er wusste, was sich politisch gehörte. Gabriel dagegen war von Anfang an ein kleiner Nimmersatt. Nach seiner Abwahl als niedersächsischer Ministerpräsident Anfang 2003 – die SPD verlor 14,5 Prozentpunkte – genügte ihm das üppige Gehalt als Oppositionsführer nicht mehr. VW gewährte einen sechsstelligen Zuschlag und nannte es Beratervertrag.
Nun sind weder Gabriel noch Schröder von Natur aus amoralisch. Für ihr Verhalten gibt es – jenseits des neoliberal-narzisstischen Zeitgeistes – auch strukturelle Ursachen. Es ist ja kein Zufall, dass der sozialdemokratische Aufsteigertypus oft aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg kommt, aus Gegenden, wo VW, die Montanindustrie und kommunale Versorgungsunternehmen die Verquickung von Wirtschaft und Politik stark begünstigen. Wer als niedersächsischer Ministerpräsident (und VW-Anteilseigner) automatisch dem VW-Aufsichtsrat angehört und dort die Interessen des Konzerns vertritt, wer bei RWE Aufsichtsratsmandate innehat oder in großen Wohnungsbauunternehmen mitbestimmt, betrachtet Politik „ganz unvoreingenommen“ als Dienstleistungsunternehmen der Wirtschaft, als bequemen Türöffner für gute Geschäfte.
Das heißt, was einst als Ausdruck sozialen Fortschritts galt, weil Linke die Mitbestimmung in Großunternehmen als Hebel für die erstrebte Wirtschaftsdemokratie betrachteten, verkehrte sich unter dem globalen Konkurrenzdruck in sein Gegenteil. Man kontrollierte nicht mehr die Bosse, man paktierte mit ihnen, man wurde zum Genossen der Bosse. Wie das bisweilen endet, zeigte der VW-Skandal des Jahres 2005, als sich Betriebsräte mit Luxusreisen und Prostituierten kaufen ließen.
Heute verdingt sich Gabriel bei der Deutschen Bank, bei Siemens Energy, bei Deloitte, bei Holtzbrinck. Er scheffelt Geld. Skrupel kennt er nicht. Gabriel wie Schröder betonen bei jeder Gelegenheit: Wir machen nichts Verbotenes, wir sind niemandem rechenschaftspflichtig, wir sind keine Politiker mehr. Ihr habt uns aus der Parteiführung beziehungsweise aus dem Kanzleramt gemobbt, jetzt zeigen wir euch, dass wir auch ohne euch zurechtkommen, und zwar besser, als ihr Moralapostel es euch in euren feuchtesten Träumen vorstellen könnt. Ihr Kampfgruß wurde der gereckte Mittelfinger. Als zwei Spiegel-Redakteure wieder mal auf Schröders Lobby-Jobs für Gazprom und Rosneft zu sprechen kamen, fauchte dieser nur: „Das ist mein Leben, nicht eures.“
Dass es solche Trotzbuben bis in den SPD-Vorsitz schafften, sagt viel über die Entwicklung der Partei. Auch jetzt wehren sich die verschreckten Genossen nur halbherzig. Statt vom Leder zu ziehen, versteckt sich Minister Hubertus Heil lieber hinter den Rockschößen seiner Mutter. Die hätte zu Gabriel gesagt: „So was macht man nicht“.
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