Nein, es sind nicht nur „Turbulenzen“, mit denen die Große Koalition nach der Thüringen-Wahl zu kämpfen hat. Alles deutet darauf hin, dass sich die GroKo bereits im Zustand der Auflösung befindet. Und das ist nicht allein Schuld der SPD. Zwar zelebrieren die Sozialdemokraten ihr Leiden an der GroKo besonders lustvoll. Aber nur, wenn die Union auf stur schaltet und die Vorhaben der SPD bewusst torpediert, würde die SPD das Bündnis aufgeben. Ist die Grundrente der Knackpunkt?
Bereits für Mitte September war ein gemeinsames Konzept von Kanzleramtsminister Helge Braun und Arbeitsminister Hubertus Heil angekündigt, doch der Termin verstrich, ohne dass man einer Lösung nähergekommen wäre. Die Union beharrt auf der im Koalitionsvertrag vereinbarten Bedürftigkeitsprüfung. Und Armin Laschet, potenzieller Kanzlerkandidat der Union, bestärkt seine Partei, in dieser Sache nicht nachzugeben. Die für Mitte Oktober geplante Halbzeitbilanz der GroKo musste deshalb verschoben werden.
Auch in der Außenpolitik – bislang kein Minenfeld – rumst es. Annegret Kramp-Karrenbauer, potenzielle Kanzlerkandidatin der Union, düpierte ihren Ministerkollegen Heiko Maas mit einem unabgesprochenen und unausgegorenen Vorschlag zur Einrichtung einer Sicherheitszone in Nordsyrien. Und Friedrich Merz, der Dritte im Bunde der Kanzlerkandidaten, empörte sich im ZDF über das „grottenschlechte Erscheinungsbild“ der Regierung. Die GroKo sei verantwortlich für die Niederlagenserie der Union.
Die ist in der Tat beachtlich: Bei der Bundestagswahl 2017 sackte die Union um 7,4 Prozentpunkte ab, bei der Europawahl 2019 sogar um 7,5. Bei den Landtagswahlen der vergangenen Jahre waren die Verluste häufig zweistellig: Baden-Württemberg –12 Prozentpunkte, Berlin –5,7, Hessen –11,3, Bayern –10,5, Sachsen –7,3, Brandenburg –7,4, Thüringen –11,7.
SPD-Vorsitzenden fällt nach solchen „Katastrophen“ nur noch ein resignierendes „Bitter“ ein. Bisweilen, wie vergangenen Sonntag, auch ein „Sehr, sehr bitter“. Bei der Bundestagswahl rutschte die SPD um 5,2 Prozentpunkte ab, bei der Europawahl um 11,4. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg waren es –10,4, in Sachsen-Anhalt –10,9, in Berlin –6,7, in NRW –7,9, in Bayern –10,9, in Hessen –10,9, in Bremen –7,4, in Brandenburg –5,7, in Sachsen –4,7 und in Thüringen –4,2. Selbst der lange Casting-Wettbewerb um den Parteivorsitz wirkte nicht als Weckruf, sondern löste nur ratloses Achselzucken aus. Die beiden Teams, die es in die Stichwahl schafften, wurden gerade mal von 11,4 und 10,6 Prozent der 425.630 Parteimitglieder gewählt. Rund die Hälfte der Mitglieder boykottierte die Wahl. Das ist peinlich – vor allem für Vizekanzler Olaf Scholz.
Norbert Walter-Borjans („Nowabo“) und Saskia Esken haben deshalb gute Chancen, die Stichwahl knapp zu gewinnen. Aber brächte dieser Sieg die Partei wirklich nach vorn? Nowabo eiert in Fragen der GroKo herum und vermeidet den Richtungsstreit. Eine Veranstaltung mit dem Linkspolitiker De Masi sagte er ab, den Auto-Lobbyisten Gabriel umgarnt er. Am Ende wäre die neue Doppelspitze der SPD so schwach wie Kramp-Karrenbauer als CDU-Chefin. Die Niederlagenserie würde sich fortsetzen. Vermutlich putscht eher die CDU gegen ihre Vorsitzende, als dass die SPD die Große Koalition mit einer klaren politischen Begründung platzen lässt.
Kommentare 3
Jetzt zerstört uns doch nicht unsere letzten Hoffnungen zur Regeneration der SPD indem ihr Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken halbherzigkeit vorwerft. Scholz und Co. wäre der glatte Selbstmord dieser ehemals ruhmreichen revolutionären Partei.
Im Grunde ist das Vorsitzenden-Mimikry mit vorab feststehendem Ergebnis einfach nervig – vor allem, wo nunmehr auch der »linke« Schulz massive Anschubhilfe leistet für den »rechten« Scholz (inklusive Seifenoper, wo man das Taschentuch rausholen muß – vo allem im achten Akt dem Titel: »Du, ich würde dir gern was sagen«).
Das ist Schmierentheater, aber das Ergebnis mit dem Namen Scholz stand von Anfang an fest. Richtiger Rückschluss kann so nur der sein, dass die kleinbürgerliche Restbasis der Partei in einer Verfassung ist, in der sie so gut wie alles abnicken würde. Entsprechend denke ich, dass man den Festhallenschmuck mit viel rotem Lametta, Bebel und Brandt langsam abbauen kann. Soziologisch allein von Interesse sein kann allenfalls die Frage, wie viele sich via Scholz-Stimme existenziell selbst in die Hartz-IV-Hölle schießen, oder ob auch die unteren Partei-Restkader sich wohnlich in Öffentlichem Dienst oder vergleichbar abgesicherten Sphären eingerichtet haben.
Ich persönlich bin bei der Beantwortung der letzten Frage noch unschlüssig. Und schwanke beantwortungstechnisch entsprechend zwischen Schrebergarten-Masochismus und Acht-Prozent-Karrierismus.
Die Bundestagsfraktion der SPD wird nicht "freiwillig" die GroKo verlassen und Neuwahlen anstreben. Ebensowenig die CDU. Beide hätten ein Desaster zu erwarten, von dem vor allem die AfD profitieren dürfte. Soll man sich das wünschen? Und wenn NoWaBo zum Thema GroKo "herumeiert" zeigt das nur professionellen Verstand. Man stelle sich ihn als Parteivorsitzenden vor, der die GroKo kündigt und die Bundesttagsfraktion lehnt das ab. Da könnte er auch gleich wieder einpacken. Politik macht man nicht, nur damit "was los" ist und die Journalisten was zu schreiben haben.
Zu befürchten ist, dass die Union ihre Machtoptionen an der Seite der AfD auslotet. Da ist eine Machtperspektive. Wo ist die auf der Linken?