Erleichterung macht sich breit. Es kommt wohl nicht ganz so schlimm wie Anfang August noch befürchtet. Damals sah Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung einen gewaltigen Polit-Tornado über Ostdeutschland heraufziehen. „Der Sturm“, so Prantl, „den die drei Landtagswahlen auslösen dürften, wird die schwarz-rote Koalition in Berlin beuteln und schütteln wie nichts bisher; der Drei-Wahlen-Sturm kann diese gar nicht mehr große Koalition auch zerstören.“ Sofort schob die Bild eine Katastrophenwarnung hinterher und spekulierte unter der Schlagzeile „Was am 1. September um 18 Uhr passieren kann“ über die Folgen des „Landtagswahl-Bebens“ für die GroKo. In den Insiderkreisen Berlins laufe bereits eine „Flüster-Kampagne für die Bildung einer Minderheitsregierung“.
Davon redet heute niemand mehr. Die jüngsten Umfragen von Infratest dimap und Forschungsgruppe Wahlen prognostizieren für kommenden Sonntag ein beruhigendes „Weiter-so“. In Brandenburg liegt die SPD wieder vor der AfD, in Sachsen hat die CDU die Führungsrolle zurückerobert. Dank des „Amtsbonus“ der beiden Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD) und Michael Kretschmer (CDU), dank der einfühlsamen Medienbegleitung ihrer gesprächstherapeutischen Grillfestwahlkämpfe können CDU und SPD ihre fast 30-jährige Regierungsarbeit um weitere fünf Jahre verlängern. Sie brauchen nur einen dritten Koalitionspartner. Das wären in beiden Fällen die Grünen. Sachsen würde dann, wie das benachbarte Sachsen-Anhalt, von einer Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grünen regiert. Brandenburg dürfte sich mit Rot-Rot-Grün am benachbarten Berlin orientieren. Obwohl die Parteien, die seit drei Jahrzehnten die Ministerpräsidenten stellen, am Sonntag herbe Verluste einstecken müssen, wird man am Wahlabend womöglich vom großartigen Sieg „auf den letzten Metern“ schwärmen.
Die nackte Wahrheit ist: Die Regierungsparteien CDU, SPD und Linke in Brandenburg und Sachsen verlieren stark, die Oppositionsparteien AfD, Grüne und FDP können ihre Anteile verdoppeln. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass in Sachsen und Brandenburg bei der letzten Wahl 2014 nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten abgestimmt hat. Und dass beide Länder nur 8,8 Prozent der wahlberechtigten Bundesbürger repräsentieren.
„Tiefer hängen“ wird deshalb die Abwehrparole der Berliner Regierungsparteien am Wahlabend lauten. Die GroKo sei ungefährdet. Man werde sich eine Krise auch nicht einreden lassen. Das klingt nach dem berühmten Pfeifen im Walde.
Kein historischer Kompromiss
Es mag ja zutreffen, dass die AfD in Brandenburg und Sachsen nochmals in der Opposition bleiben muss, es mag auch knapp vermieden werden, dass ein Republik-erschütternder „historischer Kompromiss“ wie eine CDU/Linke-Koalition ernsthaft in Betracht zu ziehen ist, doch einfach zur Tagesordnung übergehen kann die GroKo auch nicht. Es braucht inzwischen weder Tornado noch Erdbeben, um sie zu beenden, es genügt ein geringfügiger Anlass und das Kabinett Merkel IV ist Geschichte. Einziges Problem: Es fehlt das Personal, das solche Anlässe zu nutzen versteht.
Anlass Nummer eins böte sich am 20. September. An diesem Tag wird das Klimakabinett den Entwurf seines Klimaschutzgesetzes vorstellen. Um Konfliktpunkte rechtzeitig ausräumen zu können, treffen sich die Koalitionsspitzen noch mal am 2. und 13. September. Prognose: Man wird sich auf einen kleinen Wurf aus CO₂-Steuer, Prämien und Zertifikatehandel einigen.
Anlass Nummer zwei für einen Koalitionsbruch wäre das Grundsatzpapier zur Grundrente, das Kanzleramtsminister Helge Braun und Arbeitsminister Hubertus Heil Mitte September präsentieren wollen. Die kommissarische SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig sagte dazu im ARD-Sommerinterview: „Wir erwarten von der Union, dass sie vor allem die soziale Frage – und das ist die Grundrente – mit uns beantwortet ... Wir erwarten, dass die Union das nicht weiter blockiert“. Sonst habe man „ein Problem“. Prognose: Man wird sich auf eine schmale Grundrente mit wenig Bedürftigkeitsprüfung einigen.
Anlass Nummer drei ist jene Halbzeitbilanz, welche die Bundesregierung Mitte Oktober vorlegen will. Die Selbstbewertung der GroKo (vermutlicher Leitsatz: Wir haben prima gearbeitet) soll als Grundlage für die Entscheidung des SPD-Parteitags Anfang Dezember dienen. Laut „Koalitionstracker“ der Süddeutschen sind von den im Koalitionsvertrag vereinbarten 140 Vorhaben bislang 33 Versprechen umgesetzt, weitere 10 teilweise, 55 sind in Arbeit, 39 noch nicht begonnen und 3 gescheitert (etwa strengere Rüstungsexportrichtlinien). In den Bereichen Justiz und Kultur ist die Regierung weitgehend untätig geblieben, ebenso auf den Gebieten Wirtschaft, Landwirtschaft, Verkehr, Europa, Sicherheit, Digitales, Heimat und Wohnen. Die Personal- und Verwaltungskosten der Ministerien sind seit 2014 jedoch um 40 Prozent gestiegen. Nach Effektivität sieht das nicht aus. Prognose: Union und SPD werden darauf beharren, alles richtig gemacht zu haben.
Anlass Nummer vier könnte die vom kommissarischen SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel vorgestellte Vermögenssteuer sein. Die SPD will, dass die Superreichen einen winzigen Teil ihrer leistungslosen Gewinne an einen staatlichen Infrastrukturfonds abführen. Sofort ist republikweit von Klassenkampf, Neiddebatte, Irrweg und Standortgefährdung die Rede. Wirtschaft und Wirtschaftsmedien heulen synchron. In diesen Kreisen ist die SPD längst reif für die Opposition. Doch die Union muss sich nicht sorgen. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir werden die Steuerbelastung der Bürger nicht erhöhen.“ Prognose: Die Union poltert ein wenig, versteht aber die Schwierigkeiten der SPD total.
Anlass Nummer fünf ist der sich hinziehende Wettbewerb um den SPD-Vorsitz. Die damit verbundene Dauerpräsenz in den Medien wird an den Nerven der Union zerren. Denn Rücksicht auf den Partner wird es in den Vorstellungsrunden nicht geben. Im Gegenteil: Die Kandidaten werden alle betont links auftreten. Am 26. Oktober, mit der Bekanntgabe des Ergebnisses der Mitgliederbefragung, wird sich dann zeigen, wie die innerparteilichen Kräfteverhältnisse aussehen, konkret: wie viele Stimmprozente die beiden konservativen Teams Scholz/Geywitz und Pistorius/Köpping im ersten Wahlgang erreichen. Daran lässt sich ablesen, wie stark die Zustimmung zur Großen Koalition in der Mitgliedschaft noch ist. Prognose: Ihre Befürworter bleiben auch 2019 in der Mehrheit.
Anlass Nummer sechs ist die Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober: Bleibt die CDU hinter der Linken und die SPD hinter den Grünen werden die Rufe nach einer Auflösung der GroKo wieder zunehmen. Prognose: Auch das versendet sich. Siehe Brandenburg und Sachsen.
Anlass Nummer sieben ist der Parteitag der SPD im Dezember. Dort fällt die Entscheidung. Doch die Schwäche der SPD-Linken lässt einen Bruch mit der GroKo nicht erwarten. Kevin Kühnert zeigt mit seinem Verzicht auf eine Kandidatur, dass er die Machtverhältnisse richtig einschätzt. Der Juso-Chef ist klug genug, um sich jetzt nicht zu verkämpfen. Also wird die GroKo weitermachen. Prognose: Es bleibt stabil fragil.
Kommentare 3
ehemalige "kreml-astrologen" hatten es leicht:
sie mußten nur geheimes ent-decken.
heutige bundestags-/partei-astrologen haben es schwer:
sie müssen zu den zutage-liegenden faktoren
noch die un-wägbarkeiten von stimmungs-umschwüngen
von parteien und wählern, bei ausländischen exits und
inländischen ver-unsicherungen durch
kalifatische kriminalität, klanöse/groß-industrielle komplotte,
katastrophale klima-klimaxe,
finanz-kapitale knappheiten auf dem wohnung-markt,
zweifel an der betreuten information: mit-kalkulieren.
die konstant-gedachte kultur-möblierung hat den wurm,
was üblich und recht war: ist im schwinden.
die insel der halbwegs-seligen entpuppt sich
als driftende scholle in global-kontinentalen verschiebungen.
zum fein-gesponnen text:
frieder merz(CDU) stimmt heute die union
auf ein aus-scheren der SPD aus der kleinen, ehemals großen koalition ein:
scholz' chance zur selbst-behauptung(30%)
in "dieser schwierigen partei",schätzt er eher gering ein:
die klärungs-prozesse der SPD bis zum bundesparteitag(6.12.)
werden sie für koalitionen mit der union noch un-williger machen.
nicht nur die borjans-kandidatur-frage spitzt die SPD an.
gewichts-gewinne springen aus dieser not-wendigen neu-erfindung
nicht ohne weiteres heraus.
Hey Leute, in diese Beziehung habe ich euch Einiges voraus: Ich habe ämlich schon vor Jahren begriffen, dass es vollkommen egal ist, was und wen man wählt. Ob der Oberkasper Meier, Müller oder Schmidt heisst und ob dessen Fahne gestreift oder gepunktet ist, ist sowas von egal.
Das hat allerhöchstens auf irgendwelche lokalen Marginalitäten Einfluss, die "große Politik" wird ganz woanders gemacht: In den Lobbybüros, bei den Bilderbergern, Atlantikbrücke, im Pentagon, in den Aquity-Fonts ... aber ganz bestimmt nicht in Berlin (oder Potsdam, Dresden ... usw.). Der alte Anarcho-Spruch: "Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären Sie schon längst verboten" gilt heute mehr denn jeh.
Die Medien haben im Auftrag iherer Besitzer den Pöbel so gründlich gehirngewaschen, da besteht nicht die geringste Gefahr, dass bei Wahlen etwas aus dem Ruder läuft. Und falls doch, ich bin sicher, waren die Wahlen plötzlich gefälscht oder am nächsten Tag steht die Bundeswehr auf der Straße. Seit 70 Jahren wählen die Deutschen immer genau die, die nicht in ihrem Interesse agieren. Wie das wohl kommt?Wenn man etwas ändern möchte, muss man sich zu einer Revolutiuon entschliessen, aber - Puh - das bedeutet ja Gewalt, geht garnicht (ausser, sie geht vom Staat und seinen Helfern aus). Denn niemand, der es sich heute an den Hebeln der Macht wohnlich eingerichtet hat, räumt diesen Posten jemals wieder freiwillig. Und schon sind wir aber bei der Systemfrage und ich werde als Rechts- Links- oder sonstwie radikal betitelt.
Also bleibt wohl vorerst Alles beim Alten.