Es schmerzt so heftig

Linkspartei Dem Wahldesaster soll die Neuausrichtung folgen – ohne Tabus. Unvorstellbar ist das nicht
Ausgabe 36/2019
2007 lag das Ost-West-Verhältnis in der Mitgliedschaft bei 5:1. Inzwischen kommt die Hälfte aus dem Westen
2007 lag das Ost-West-Verhältnis in der Mitgliedschaft bei 5:1. Inzwischen kommt die Hälfte aus dem Westen

Foto: Martin Müller/Imago Images

Reden wir ausnahmsweise mal nicht über die AfD, reden wir über die Linke. In Brandenburg stürzte die Partei in zehn Jahren Regierungsbeteiligung von 27,2 auf 10,7 Prozent ab. Wurde sie 2009 von 377.112 Bürgern gewählt, waren es 2019 nur noch 135.572. Wie dramatisch die Lage ist, erkennt man aber erst, wenn man die Ergebnisse von Linkspartei und SPD zusammenzählt. Vor 25 Jahren erzielten die beiden Parteien sagenhafte 72,8 Prozent, heute sind es 36,9.

In Sachsen, wo die Linke nie regiert hat, ist es aber nicht besser. Dort pendelten SPD und Linke zusammen stets um 30 Prozent, erst 2019 erfolgte der jähe Absturz: Beide Parteien erreichten zusammen noch 18,1 Prozent. Geht es so weiter, wird die Linkspartei im Osten so schwach wie die SPD und die SPD im Westen so schwach wie die Linkspartei. Doch wenn die Schwäche der Linken nicht mit ihrer „opportunistischen Regierungsbeteiligung“ begründet werden kann, woher rührt sie dann? Ist es ihr Abdriften in Richtung „grünliberale Lifestyle-Partei“, wie Sahra Wagenknecht moniert? Hat die Linke ihren Nimbus als Ostpartei verloren, wie westdeutsche Leitartikler gern mutmaßen? Ist sie zu sehr Establishment und zu wenig Protestpartei, wie Meinungsforscher glauben? Oder gehen all diese hochphilosophischen und küchenpsychologischen Ost-West-Einordnungen und Oben-unten-Spekulationen an einer viel einfacheren Erklärung vorbei?

Auf dem Jakobsweg

Das Wahldesaster in Brandenburg und Sachsen ist schlicht hausgemacht. Die beiden regionalen Parteigliederungen haben es in den vergangenen zehn Jahren versäumt, den 2007 eingeleiteten Transformationsprozess voranzutreiben. In beiden Bundesländern ist der Übergang von der alten PDS zur neuen Linken nicht richtig geglückt. Die dafür verantwortlichen „starken Männer“ – Christian Görke in Brandenburg und Rico Gebhardt in Sachsen – stammen noch aus einer Generation, die bereits in SED-Zeiten aktiv war. Sie gaben zu lange den Ton an und installierten viel zu spät und von oben herab in einer Art „Erbfolge“ ehemalige Mitarbeiterinnen als neue Parteivorsitzende. Doch weder die Doppelspitze aus Diana Golze und Anja Mayer in Brandenburg noch Antje Feiks in Sachsen hatten für den Wahlkampf Ideen geschweige denn ausreichend Vorbereitungszeit. Ihre Wahlprogramme bestanden aus einer Ansammlung sozialer Phrasen, beschränkt auf kommunalpolitische Klein-Klein-Themen. Landesweite Zukunftsvorstellungen? Fehlanzeige. Wirtschaftspolitik für die ganze Region? Fehlanzeige. Die politischen Leichtgewichte an der Spitze beider Landesverbände konnten die Wahlkämpfe nicht entscheidend prägen. Sie begeisterten niemanden.

30 Jahre nach der Wende befindet sich die Linke noch immer auf dem beschwerlichen Jakobsweg zu einer gesamtdeutschen Partei, gequält von heftigen Transformationsschmerzen. Denn die Linke ist heute westlicher, großstädtischer und – ja – auch grünlinks-„versiffter“ als vor zwölf Jahren. Bei der Fusion von ostdeutscher PDS und westdeutscher WASG 2007 lag das Ost-West-Verhältnis in der Mitgliedschaft bei 5:1. Inzwischen kommt die Hälfte der Mitglieder aus dem Westen. Während die ostdeutschen Landesverbände schrumpfen, wachsen die westdeutschen. Sachsen, lange Zeit stärkster Verband, musste die Führungsrolle an Nordrhein-Westfalen abgeben. Die Linke verliert damit auch ihren Alleinvertretungsanspruch für „den Osten“. Diesen Prozess kann die Partei verzögern, aufhalten kann sie ihn nicht.

Er kann – wenn man es richtig anstellt – sogar erfolgreich sein. So verteidigte „Chaos-Jule“ Juliane Nagel in Leipzig-Connewitz das einzige Direktmandat für die Linke mit dem landesweit besten Ergebnis an Erst- und Zweitstimmen (27,4 bzw. 20 Prozent). Nagel betreibt in Leipzig ein „offenes Abgeordnetenbüro“, das mehr nach alternativem Stadtteilladen als nach Büro aussieht. Sie ist seit vielen Jahren das bekannteste Gesicht der linken Szene und darüber hinaus – o Schreck! – migrationspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Diese Aktivistin ist der leibhaftige Gegenentwurf zu einer langweiligen Politikerin. Sie ist präsent und „nah an den Menschen“. Warum sollte das nicht auch in ländlichen Regionen funktionieren?

Das Desaster der Linken in Brandenburg und Sachsen wird nach der Thüringen-Wahl zur längst überfälligen „Neuaufstellung“ der Gesamt-Linken führen, und zwar „ohne Tabus“ – wie die Co-Vorsitzende Katja Kipping gerade erst betonte. Ein „Weiter-so“ dürfe es nicht geben. Das klingt wie das Mantra, das die SPD seit Jahren mit sich herumschleppt.

Doch wer könnte die „Neuausrichtung“ so glaubwürdig und medienwirksam verkörpern wie das Duo Robert Habeck und Annalena Baerbock bei den Grünen? Im Gespräch ist vor allem die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Caren Lay. Sie lebt seit zwei Jahrzehnten in Sachsen, stammt aber aus dem Rheinland und wurde von den westlichen sozialen Bewegungen der achtziger Jahre geprägt, von Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung. Sie schrieb Reden für die grüne Bundesministerin Renate Künast, ging anschließend zur PDS, war stellvertretende Vorsitzende der Linken sowie deren Bundesgeschäftsführerin. Ihr politischer Schwerpunkt ist die Wohnungs- und Mietenpolitik. 2006 gründete die bekennende Feministin mit Katja Kipping die Emanzipatorische Linke.

An Lays Seite könnte man sich einen Politiker wie Fabio De Masi vorstellen. Der Hamburger ist ausgebildeter Volkswirt, pflegt als Mitglied der Europäischen Linken gute Kontakte zu zahlreichen Schwesterparteien und steht, wie Bernd Riexinger, der innerparteilichen Strömung „Sozialistische Linke“ nahe, die auf mehr Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften setzt. De Masi, 39 Jahre alt, wäre vom Typus das Gegenbild zum drögen Gewerkschaftssekretär Riexinger. Er tritt selbstbewusst auf, gilt als Vertrauter Sahra Wagenknechts und würde die in der Linken dringend benötigte Kompetenz in Sachen Regulierung des Finanzkapitals einbringen, ob es um den Cum-Ex-Skandal oder die Panama Papers, die EZB oder die Vermögenssteuer geht.

Mit Walter-Borjans reden

Lay und de Masi wären ein gutes Team, doch sie stammen aus dem Westen, und es ist nicht sicher, ob die Partei einen solchen Normalfall bereits verkraftet. Zum Ausgleich könnte die Fraktionsspitze mit zwei Ost-Politikern besetzt werden: mit dem schon bewährten Dietmar Bartsch und eventuell der gebürtigen Dresdnerin Petra Sitte.

Die neue Parteispitze sollte aber vor allem willens sein, mit der neuen SPD-Führung den Dialog zu suchen. Denn bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg hat sich gezeigt, dass die Wählerwanderung zwischen SPD und Linkspartei intensiver ausfällt als vermutet. Würden sich bei der SPD Ex-NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken durchsetzen, könnte man sich einen solchen Dialog vorstellen. Parallel dazu müsste eine paritätisch besetzte Historikerkommission ausloten, was die beiden Parteien trennt, wo es verletzende Erfahrungen aufzuarbeiten gilt, wo Ansatzpunkte für eine Kooperation liegen und wo beide Seiten über ihren Schatten springen müssen. Denn über kurz oder lang wird nur eine schlagkräftige linke Partei in Deutschland gebraucht. In Gotha hat es 1875 doch auch geklappt.

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

Wolfgang Michal

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