Online-Plattformen beanspruchen für sich derzeit eine Art Sonderrecht auf organisierte Verantwortungslosigkeit. ‚Meinungsäußerungen’ wie: „Ich weiß, wo du wohnst, Judensau!“ können auf bei Facebook, Twitter usw. erst mal veröffentlicht werden, bevor sie – nach einer gewissen „Schonfrist“ – wieder gelöscht werden müssen. Das ist so, als dürfte ein Restaurantbesitzer seinen Gästen erst mal wahllos Speisen anbieten, um am nächsten Tag zu sehen, was er besser nicht mehr anbieten sollte, weil Gäste mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus liegen.
Konstruiert haben dieses Sonderrecht, das man auch „Provider-Privileg“ nennt, die Gerichte und das von der Großen Koalition 2007 beschlossene Telemediengesetz. Das Privileg soll festschreiben, dass der Überbringer einer Nachricht (also der Postbote) für den Inhalt der überbrachten Nachricht nicht verantwortlich gemacht werden kann. Internet-Plattformen – so die Aufassung damals – leiten als neutrale „Hosting-Provider“ nur durch, was Nutzer auf eigene Verantwortung auf die Plattform hochladen wollen.
2007 schien diese Lesart noch gerechtfertigt zu sein, denn Facebook war damals drei Jahre alt und nicht sehr bedeutend. Heute aber ist Facebook eine globale, werbefinanzierte Nachrichtenschleuder mit enormer Wirkung auf die öffentliche Meinung. In diversen Geschäftsbedingungen und Gemeinschaftsstandards muss dort jeder akzeptieren, dass er Rechte an Facebook abtritt – und dass bestimmte (beleidigende, volksverhetzende etc.) Inhalte auf der Plattform unerwünscht sind. Der Begriff „Nutzer“ ist also längst Augenwischerei. In Wahrheit sind die Nutzer vertraglich gebundene Mitarbeiter des Unternehmens.
Die ausführliche Argumentation von Wolfgang Michal lesen Sie im aktuellen Freitag oder in der WebApp
Für Telemedien wie das heutige Facebook müsste also nicht mehr das Provider-Privileg gelten, sondern das aus dem Rundfunkrecht abgeleitete Verantwortungsprinzip. „Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten“, steht dort, „haben den anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen. Nachrichten sind vom Anbieter vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit zu prüfen.“
Jeder Blogger, der nicht nur Katzenfotos und private Erlebnisse auf seiner Webseite postet, muss sich nach diesem Rundfunkstaatsvertrag richten, warum also nicht ein Massenmedium wie Facebook? Was wir brauchen, sind also keine neuen Gesetze wie Heiko Maas´ Netzdurchsetzungsgesetz. Es genügen jene Regelungen und Selbstverpflichtungen, die bereits existieren. Mit anderen Worten, Facebook muss arbeiten wie andere Medien auch: Die Plattform darf nicht wahllos veröffentlichen dürfen, sondern sie muss Inhalte gewissenhaft prüfen, bevor sie veröffentlicht werden. Verhütung ist immer besser als die Pille danach.
Info
Freitag-Redakteur Mladen Gladic ist der Meinung, dass das Argument, der Nutzer sei ein Mitarbeiter, am Ende nicht wirklich weiter führt. Hier ist seine Entgegnung
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.