Die Kaiser des Römischen Reiches unterhielten das Volk in den Krisenjahren gern mit Gladiatorenkämpfen. So konnte der Alltagsfrust abgebaut und ein wenig umgelenkt werden. In den Arenen testeten die Herrschenden die Stimmung – heute macht dies Infratest dimap. Hatten die Zuschauer schlechte Laune oder bekamen sie nicht geboten, was sie erwarteten, senkte der Kaiser den Daumen und die unterlegenen Gladiatoren wurden ausgebuht und öffentlich hingerichtet. Heute erledigen das Shitstorms und Cancel Cultures. War das Volk aber zufrieden, gab es Likes vom Kaiser und neue Follower für die Gladiatoren. Zwischen Daumen hoch und Daumen runter existierte nichts Drittes. Es gab nur Entweder-Oder.
Manches an den heutigen Schaukämpfen läuft nach einem ähnlichen Muster ab, egal ob es dabei um Kanzlerkandidaten, Künstler oder Virologen geht. Es gibt nur Top oder Flop, Versager oder Macher, Freund oder Feind. Galt Armin Laschet, der Teamplayer, anfangs als besonders clever, war er kurz darauf schon „Laschet, die Lusche“. Konnte der Heilsbringer Markus Söder zu Beginn der Coronakrise über Wasser laufen, war er nach „seiner“ Testpanne nur noch ein aufgeblasener Gernegroß. Olaf Scholz und Joe Biden sind die nächsten, die als Lichtgestalten in den Kampf ziehen. Doch ein unbedachter Satz, eine falsche Zahl – und ihre Zustimmungswerte stürzen ab. Schuld daran, so heißt es, sei eine um sich greifende Differenzierungsunlust. Kommt eine coronabedingte Gereiztheit hinzu, wird’s schnell persönlich, launisch und rüpelhaft.
Das Auf und Ab zwischen Hochjubeln und Niederkartätschen, großer Heilserwartung und tiefer Enttäuschung wird von Politik und Medien nicht etwa gebremst, sondern zusätzlich befeuert, indem alles, wirklich alles, auf Personen reduziert wird. Das gipfelt in der ängstlich-autoritären Dauerfrage an die Kandidaten: „Kann der Krise?“ Die moderne Öffentlichkeit funktioniert genau wie die antike Arena.
Bis hierhin könnte dieser Kommentar in jedem bürgerlichen Feuilleton stehen: Elegischer Kulturpessimismus, verächtliche Ablehnung von Masse und Pöbel, das war schon immer das Kennzeichen und die Gebetsmühle der Konservativen. „Die allgemeine Nivellierung und Vulgarisierung des Stils“, schrieb der ehemalige Welt-Chefredakteur Hans Zehrer Jahrzehnte vor Erfindung des bösen Internets, „ist das vornehmste Zeichen der heutigen Zeit“. Doch vielleicht ist das nur vornehmer Quatsch und war immer schon Bullshit. Vielleicht ist „die Launenhaftigkeit des Volkes“ hinsichtlich der Beurteilung von Personen nur die Folge einer sich zuspitzenden gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Jedenfalls sollten wir nicht vorschnell die Nase rümpfen über „die neue Ruppigkeit“, das wirre Auf und Ab, „das Unbehagen in der Kultur“ und die schnelle Bereitschaft, alles zu „canceln“ oder zu brandmarken, was einem nicht passt.
Besser wäre es, zu versuchen, was Peter Glotz, der einstige Generalsekretär der SPD, 1987 in einem Buch „die Arbeit der Zuspitzung“ nannte. Statt die Launenhaftigkeit, die Ruppigkeit, die überspannten Erwartungshaltungen und die übergroße Enttäuschungsbereitschaft der Menschen weiter zu nähren, indem man sie bestärkt oder verächtlich missbilligt, käme es darauf an, diese Haltungen als Krisenerscheinungen bewusst und damit produktiv zu machen. Schließlich lautet der Untertitel des Glotz-Buchs ganz nüchtern: „Über die Organisation einer regierungsfähigen Linken“.
Kommentare 12
Passt vielleicht nicht GANZ, scheint mir jedoch ein gutes Beispiel dafür, wie im Zug von Kampagnen mittlerweile JEGLICHE ETHISCHE BEDENKEN beiseite gewischt werden: der Hype um die Familien-Interna, welche Trump-Nichte Maryanne Trump Barry derzeit auftischt. Um ihre Familiengeschichte zu untermauern, hat Barry heimlich Tonaufzeichnungen angefertigt von Gesprächen mit anderen Familienmitgliedern. Das Ganze wurde irgendwie »geleakt« und sämtliche Medien – vorgeblich seriöse wie die »Washington Post« voran – tragen die auf dem Bruch sämtlicher Berufsstandards basierenden Klatschgeschichten (die Urheberin ist Psychologin !!) durch die Szenerie.
Um nicht mißverstanden zu werden: Donald Trump ist in meinen Augen eine hochbedrohliche Angelegenheit, eine Abwahl aus demokratieerhaltenden Gründen dringend geboten. Meines Wissens ist heimliches Mitschneiden von Gesprächen jedoch ein journalistisches No-Go – geschieht das unter der Maske der Psychologie oder, wie jetzt, im Rahmen familiären Schmutzwäsche-Waschens, wird es schlichtweg unappetitlich.
Im Rahmen der im Beitrag abgerissenen Fragen sind wir somit bei Themen wie: Was dürfen Medien, was dürfen Kampagnen? Die vorläufige Antwort lautet derzeit leider: ALLES.
Die Menschen haben sich seit den Zeiten von Caligula nicht wirklich zum Besseren entwickelt. Es wird nur behauptet. Die großen Entdeckungen/Erfindungen, seien es nun Buchdruck, Glühbirne, Kernspaltung, Mikrochip, Drehbleistift oder Büroklammer haben sehr wenige Personen oder kleine Gruppen getätigt.
Über die große Masse hat Arno Schmidt ein passendes Urteil abgegeben, welches in 2000 Jahren seine Gültigkeit glänzend bewiesen hat. „Haupteigenschaften des Menschen: Geselligkeit, Spieltrieb, Faulheit, Geilheit, Doofheit, Grausamkeit." Der Dichter - mit Verlaub - hat wohl nur den zentralen Antrieb vergessen, die Habgier und Gier. Ansonsten lag er mit seinem Diktum ziemlich richtig, es lässt sich täglich beobachten, lesen, hören und „bestaunen“. (Ein Fortschritt wird stets gepriesen, die von Schmidt beschriebenen dürfen heute wählen. Was dabei dann rauskommt widerlegt ihn allerdings auch nicht...)
Caligula soll ja angeblich ein Pferd zum Senator ernannt haben. Nicht die schlechteste Idee. Ein guter Gaul in der politischen Arena oder in den diversen Talkshows könnte sicher die politische Debatte irgendwie bereichern und an manchen Orten sogar das Niveau heben. So man dem Pferd die Moderation und etwas Hafer überlässt. (Die Talkshowkönige und Talkshowköniginnen - größtenteils längst gemachte GEZ Millionäre - kommen dem Gebührenzahler wesentlich teurer als ein Sack Hafer.)
"kann der/sie: krise?"
ist eine berechtigte frage der regierten.
zumal in der frage steckt: versteht er/sie die krise?
+ kann er/sie die krise den betroffenen verständlich machen?
irrationale panik-reaktionen/verzweiflung vermeiden?
d.h. auch: kann er/sie motivieren, kräfte mobilisieren,
die krise erträglich/überwindbar zu machen?
vollmundige versager/verharmloser als führer bieten sich zu hauf an.
da ist unterscheidungs-vermögen, das trennen von spreu und korn:
höchst nützlich.
Ich bin kein Freund fetter Überschriften. Sie lenken ab oder erschlagen.
Aber wenn schon eine, dann:
Haltung MIT Häme.
Wenigstens hier möchte ich einen Unterschied zu den Sedierern und Weichzeichnern des Ungleich- und Unrechtsystems wahrnehmen.
Bis hierhin könnte dieser Kommentar in jedem bürgerlichen Feuilleton stehen: Elegischer Kulturpessimismus, verächtliche Ablehnung von Masse und Pöbel, das war schon immer das Kennzeichen und die Gebetsmühle der Konservativen.
Das muss nicht sein.
Danke für den Hinweis auf Peter Glotz. Wenn er noch lebte, würde er sich vielleicht auch selbst wieder an seine klügsten Jahre erinnern.
>> „Kann der Krise?“ <<
Selber können es wohl die Wenigsten: Man braucht dafür schon ein paar Lobbyisten.
>>...Habgier und Gier...<<
Eine Minderheitseigenschaft. Die Meisten setzen der Ausbeutung doch kaum Widerstand entgegen, sind also das exakte Gegenteil von gierig.
"Danke für den Hinweis auf Peter Glotz."
Da hatte auch ich meinen "da hake ich ein"-Impuls.
Glotz: "...bewusst und damit produktiv zu machen"
Bedauerlicherweise verhält sich die SPD seit Jahrzehnten so, als wolle sie sich die politische Empörungsökonomie zu Diensten machen, statt aufzuklären
Nur leider ist sie genetisch die Partei, die aufgesetztes Gefühlstheater am wenigsten kann. Sobald ein SPDler großes oder kleines Gefühlskino versucht, das nicht im Sinn der Reichen ist, stehen sofort etliche bürgerliche Journalisten bereit, um den Versuch durch den Kakao zu ziehen.
Pippi-Interpretin Nahles kann davon mehrere Lieder singen.
Bewusst machen, würde bedeuten, wieder links zu denken und zu argumenten. Stattdessen versuchen es die SPD-Vorderen mit Geschichten über Würselen und hängen sich ansonsten affirmativ an die Topthemen der bürgerlichen Presse an.
Bedauerlich und auf Dauer selbstmörderisch für jede Partei, die ihre Selbstdefinition und Daseinsberechtigung eigentlich im Behauptungskampf gegen die Reichen und Mächtigen hat.
Ja. Ich meine, ungeachtet der Tatsache, dass die SPD noch lange nicht wieder klug geworden ist, sollte jeder auf sozialen Ausgleich bedachte Mensch auf "Memes", Späße und persönliche Tiefschläge in Richtung Sozialdemokratie verzichten. Der dafür aufgeschlossene Teil der Öffentlichkeit bleibt ohnehin groß genug.
So lange die Partei aber Industriespenden annimmt, kann sie nicht Partei für mich und meine Art Leute ergreifen - und ich nicht für sie.
Man müsste Häme einmal auf ihren Nutzen abklopfen. M.E. ist sie langweilig und bringt nichts ein. Wer ein paar ordentliche Shitstürme ausgehalten oder losgetreten hat, hat irgendwann genug davon und erkennt, dass es Besseres zu tun gibt. Das ist ein beträchtlicher Vorteil gegenüber den armen Gladiatoren, die nicht nur beschimpft, sondern auch noch getötet wurden.
Ja, der Peter Glotz. War irgendwie einverstanden mit der Einführung von Privatfernsehen. Damit begründete er seinen Ruf als Medienpolitiker und Großintellektueller. Nun denn. Heute gibt es überhaupt keine Medienpolitik mehr, die den Namen verdient. Vielleicht erklärt das ja auch einen kleinen Teil dessen, was wir als Verrohung des Diskurses erleben.
Ich so "Kann der Krise?"
Er so "Kann der!"
Ich so "Alles gut!"