Linkspartei und Grüne: Die sind ja gar nicht mehr links!
Analyse Lohnt es sich für den Überlebenskampf der Linkspartei, sich an den Grünen abzuarbeiten? Wohl kaum. Sahra Wagenknecht und die Linke wären gut beraten, erstmal einen Blick auf die Parteigeschichte von Bündnis 90/Die Grünen zu werfen
Grünen-Gründungsparteitag 1980, da war schon alles klar: Hinten auf dem Tisch steht eine Dose Fanta, obwohl Fanta Coca-Cola gehört und es das Dosenpfand noch nicht gab
Foto: Friedrich Stark/Imago Images
Von Talleyrand stammt der Satz „Politik ist die Kunst, so lange dagegen zu sein, bis man dafür sein kann“. Kein anderer Satz charakterisiert die 42-jährige Geschichte der Grünen treffender als dieser. 1980 gegründet als systemsprengende „Anti-Parteien-Partei“, die sich die antikapitalistischen Grundwerte „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“ auf die Fahne schrieb, gilt sie heute selbst in Unternehmerkreisen als solide Kraft, die dem erschöpften Kapitalismus durch „sozial-ökologische Modernisierung“ eine neue Legitimationsbasis verschafft.
Diese Anpassungsleistung mag man bewundern oder verfluchen – unbestreitbar ist sie eine Erfolgsgeschichte, die vielen, insbesondere den gebeutelten Li
utelten Linken, zu denken gibt. Ein Teil der Linkspartei möchte den grünen Erfolg kopieren und fordert deshalb mehr Flexibilität, mehr Pragmatismus und mehr Lernbereitschaft von der eigenen Partei. Ein anderer Teil sieht in den Grünen den kommenden Hauptgegner, wohl wissend, dass die eigene Geschichte lehrt, dass es gründlich danebengehen kann, wenn man potenzielle Partner als „Sozialimperialisten“ oder „Sozialfaschisten“ beschimpft und stärker bekämpft als den „Klassenfeind“. Spaltungen des eigenen Lagers führten stets in die Katastrophe, da sich beide Seiten unnötig verhärteten und die wahren Gegner aus den Augen verloren. Allerdings sollte man auch nicht vergessen, dass erst der Opportunismus der einen Seite die Verhärtung der anderen bewirkte und so jede Chance auf Zusammenarbeit zunichtemachte. Kann also die Linkspartei von den Erfahrungen der Grünen profitieren, oder ist deren Geschichte ein abschreckendes Beispiel?Wer Antworten auf diese Fragen erhofft, muss sich mit dem spannungsreichen Werdegang der grünen Partei beschäftigen. Denn besonders im ersten Jahrzehnt, in ihrer Findungsphase, flogen bei den Grünen die Fetzen. Aber auch in den Jahrzehnten danach und bis zum heutigen Tag zeichnet sich die Entwicklung der Partei dadurch aus, dass sie immer bereit war, aus Niederlagen zu lernen. Sie häutete sich, wenn ihr das alte Kleid zu eng wurde, wenn neue Realitäten ein Umdenken verlangten und die Wahlergebnisse rückläufig waren. Grob vereinfacht lässt sich die fortwährende Verwandlung der Grünen in fünf Phasen einteilen.In der ersten Phase, in den 1980er Jahren, waren die Grünen eine ungestüme Protestpartei: Sammelbecken für die „Neuen Sozialen Bewegungen“, für linke und konservative Dissidenten. Letztere schieden bereits 1980 wieder aus und schufen sich in der ÖDP eine neue Heimat. Die amorphe Mitte mit ihren Hochburgen in Baden-Württemberg und Bayern vertrat einen anthroposophisch angehauchten „ökologischen Humanismus“.Bis alle „Mitte“ warenAm durchsetzungsfähigsten zeigte sich in der Frühzeit der Partei der linke Flügel aus undogmatischen Sozialisten, Überresten maoistischer K-Gruppen und Öko-Linken, die sich vor allem in Norddeutschland konzentrierten. Sie drängten die Öko-Fundamentalisten um Rudolf Bahro an den Rand und forderten eine sozialistische Transformation. Dementsprechend begann das erste Grundsatzprogramm mit einer Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems. In der Parteiführung hatten Linke wie Rainer Trampert und Jutta Ditfurth das Sagen. Gegen sie formierten sich Öko-Libertäre um Thomas Schmid sowie die hessischen Realos um Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit. Eine liberale „Aufbruch“-Gruppe um Ralf Fücks und Antje Vollmer versuchte zu schlichten und etablierte sich als mittige „Anti-Strömungs-Strömung“. Ende 1988 kam es zum Knall: Die linken Vorstandssprecher wurden gestürzt, und in den folgenden Wirren versemmelten die Grünen die Bundestagswahl 1990. Ihr prophetischer Wahlkampfslogan „Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter“ geriet zur Lachnummer.Aus der bitteren Niederlage zogen die Grünen drei radikale Konsequenzen: Zunächst drängten sie die Ökosozialisten aus der Partei (die Zirkel um Ditfurth und Trampert traten 1990/91 aus), dann vereinigten sie sich mit den eher liberal gesinnten ostdeutschen Bürgerrechtlern von Bündnis 90, und schließlich verwandelten sie die bunte Protest- in eine stinknormale Reformpartei.In dieser zweiten Phase, in den 1990er Jahren, etablierten sich die Realos als neue Zentristen, das „Linke Forum“ um Ludger Volmer besetzte die linke Mitte und die Bürgerrechtler aus der Ex-DDR, die Reste der Ökolibertären und des „Aufbruchs“ bildeten Mitte-rechts. Mitte waren jetzt alle. Es ging nicht mehr um Systemopposition, es ging um Regierungsbeteiligung. Das Linke Forum versprach einen Green New Deal, die rechte Mitte brachte Ampel-Koalitionen ins Spiel (Brandenburg, Bremen), und die Realos um Joschka Fischer bereiteten Rot-Grün im Bund vor.Die dritte Phase der Grünen, die Wandlung von der Reform- zur rein machttechnisch handelnden Realo-Partei, war geprägt vom siebenjährigen Mitregieren unter Kanzler Gerhard Schröder, und sie begann mit dem denkwürdigen Farbbeutelwurf auf Außenminister Joschka Fischer beim Bielefelder Parteitag 1999. In dieser Zeit brachen die Grünen mit ihren sozialen und pazifistischen Grundsätzen. Sie stimmten für den völkerrechtswidrigen NATO-Einsatz im Kosovo und für die umstrittenen Hartz-Reformen. Das neue, 2002 beschlossene Grundsatzprogramm strotzte vor Leerformeln („Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch“), die „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ und ein Hohelied auf Europa ersetzten die alte Systemfrage. Auch bewährte Parteistrukturen wurden nun abgeräumt. Der neue Parteirat, für den die Trennung von Amt und Mandat nicht mehr galt, fungierte als Steuerungszentrale der Regierungsgrünen. Die Delegierten der Basis sollten nicht mehr alles durcheinanderbringen können. Doch nach dem Machtverlust 2005 und Joschka Fischers Abgang machte sich Ratlosigkeit breit. Das dritte Jahrzehnt endete für die Grünen mit einem Rückgang der Mitgliederzahlen und dem Aufstieg der Linkspartei. Im Wählerzuspruch rutschten die Grünen gar auf Platz 5.Verzweifelt stürzten sie sich in die nächste, ihre vierte Verwandlungsphase. Nach dem Absturz der SPD bei der Bundestagswahl 2009 krempelten die Grünen die Realo- zu einer allseits offenen Funktionspartei um. Sie praktizierten Jamaika, Ampel, Schwarz-Grün, Rot-Grün und Rot-Rot-Grün, wie es gerade opportun erschien. Doch hinter der scheinbaren Beliebigkeit steckte eine kluge Strategie: Die Grünen wollten über das allmähliche Erstarken in den Ländern zurück in die Bundesregierung. Klaglos übernahmen sie die alte Rolle der FDP und verhalfen mal diesen, mal jenen Parteien zur Macht. Der Erfolg schien ihnen recht zu geben. Die Mitgliederzahlen stiegen seit 2016 stark an. In vielen Landtagswahlen legten die Grünen zu, während SPD, Linke, FDP und Union schwächelten. Die inhaltsarme, sich als „Überwölbung von Interessengegensätzen“ ausgebende Bündnis-Strategie zahlte sich aus. Und das 2020 beschlossene neue Grundsatzprogramm nahm die nächste Metamorphose bereits ins Visier: Das System sollte nicht mehr überwunden, sondern politisch, wirtschaftlich und militärisch verteidigt werden. Denn auf der Agenda stand jetzt „der Systemwettbewerb mit den autoritären Staaten“. Der Regierungsauftrag ließ nicht lange auf sich warten, 2021 sahen sich die Grünen fast schon auf Augenhöhe mit den geschwächten Volksparteien.Die fünfte Phase, deren Beginn wir gerade erleben, soll die Grünen von der kellnernden Funktions- zur eigenständigen Volkspartei umkrempeln. In manchen Umfragen liegen die Grünen bereits gleichauf mit Union und SPD. Spätestens 2030 soll das Ziel, die Kanzlerin oder den Kanzler zu stellen, erreicht sein. Und auch die härtesten Kritiker müssen einräumen: Das Fallenlassen alter Grundsätze hat der grünen Partei immer nur temporär geschadet. Stets ist sie frohen Mutes mit der Zeit gegangen, was sich auch darin zeigt, dass ihre Mitglieder das geringste Durchschnittsalter aller Bundestagsparteien aufweisen und mehr als die Hälfte der 125.000 Mitglieder erst ab 2016 zur Partei fand. Diese Neulinge haben kein Bewusstsein von der ungeheuren Anpassungsleistung ihrer Vorgänger und können sich daher unbelastet in die politische Arbeit stürzen.Können die Grünen ein Vorbild für die Linkspartei sein?Wäre der grüne Weg daher nicht ein Vorbild für die Linkspartei? Ja, was Offenheit und Lernbereitschaft nach Niederlagen betrifft. Nein, wenn es um die Preisgabe von Grundsätzen geht, inklusive der fast schon unverschämten Unbekümmertheit, mit der Mitglieder und Rollen „ausgetauscht“ werden.Aber bringt es die Linken weiter, wenn sie sich dauerhaft an den Grünen abarbeiten? Tappen sie nicht in eine Falle, wenn sie deren Erfolgsstory nachzuahmen versuchen? Und tappen sie nicht in eine noch viel größere Falle, wenn sie die Grünen als ihren Hauptgegner betrachten? Es ist ja bereits offensichtlich, dass jeder derartige Angriff von der Öffentlichkeit als populistische Angleichung an die AfD gewertet und als Beweis einer unheiligen Querfront interpretiert wird. Da rechte Kreise die Grünen und deren Galionsfiguren Annalena Baerbock und Robert Habeck als Inbegriff einer elitären antideutschen Wokeness verunglimpfen, fiele die Diskreditierung einer Linken, die das Gleiche aus ganz anderen Gründen tut, extrem leicht. Es wäre vergebliche Liebesmüh, hier von einer feindlich gesinnten Öffentlichkeit eine differenziertere Betrachtung einzufordern.So bleibt der Linkspartei nichts anderes übrig, als die Orientierung an den Grünen, egal ob zustimmend oder ablehnend, zu vermeiden. Wenn die Linke als Partei überleben will, muss sie etwas Eigenes schaffen. Das heißt, sie wird die jetzt anstehenden Flügelkämpfe austragen müssen, mit allen Abspaltungen, Austritten und Verheerungen, die das mit sich bringen mag. Denn – um es in Abwandlung eines berühmten Satzes von Karl Marx zu sagen – die Geschichte aller bisherigen Parteien ist eine Geschichte von Flügelkämpfen.