Locker bleiben!

MITBESTIMMUNG UND MITGESTALTUNG Die neue Regierung hat es geschafft, dass diese zentralen Zauberworte eines rot-grünen Aufbruchs aus dem Wortschatz getilgt wurden

Rot-Grün erschöpft sich seit geraumer Zeit in dem Versuch, Akzeptanz für Verzicht zu schaffen. Den Leuten also möglichst überzeugend einzureden, dass es (angesichts permanenter Gewinnsprünge) nichts mehr zu verteilen gibt. Und dass, wer anders denkt, ein Narr, ein Lafontaine ist.

Keiner betet das Credo des neu-autoritären Staates, der aus höherer Verantwortung gegen seine Bürger regieren muß, so intelligent herunter wie der selbsternannte Richelieu der Wochenzeitung Die Zeit, Jan Ross. "Die Wende zum Weniger", schreibt Ross, "ist ohne Alternative". Und der schwache Kanzler sei dazu da, "die Opferbereitschaft des Volkes" zu fördern.

Solche Wiederbelebung alter Kardinaltugenden - Wasser zu predigen und Wein zu saufen - bleibt nicht ohne Wirkung. Diejenigen nämlich, die sich dafür hergeben, die neue Verzichtsmentalität zu organisieren, werden bei Wahlen geprügelt. In Sachsen wählten zuletzt nur knapp über zehn Prozent der Wahlberechtigten sozialdemokratisch oder grün. In Berlin rutschte die SPD auf 22,4 Prozent. Und in keinem einzigen Parlament vertritt die regierende Koalition noch eine Mehrheit. Weiter so! sagt Jutta Ditfurth.

Bislang wählte man eine Partei, weil man wollte, dass diese die eigenen Interessen vertritt. Aus diesem Grund ist es zur Bildung von Parteien gekommen. Schon das Wort erklärt ja den Auftrag: partire (lat.) = teilen, trennen. Die durch Parteien ermittelten Partikularinteressen müssen dann in Konflikten - zivilisiert in den Debatten des Parlaments - vermittelt, austariert, in Politik umgesetzt werden. CSU und PDS, die erfolgreichsten Parteien der Saison, haben diese Grundregel begriffen, indem sie nicht aufs nationale Ganze, sondern auf den regionalen "Mir san mir"-Faktor setzten. Ostdeutsche wählen Ostpartei, Bayern wählen Bayernpartei. Da weiß man, was man hat. Doch im nationalstaatsfixierten, von idealistischer Philosophie geprägten Deutschland vertreten Parteien, die etwas romantischer veranlagt sind als CSU und PDS, am liebsten schon im Parteiprogramm die übergeordneten Staatsinteressen. Der "General Dr. von Staat" (Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen) ist ihr Leitbild. Richtungskampf, Parteienstreit, Parlamentsdebatte - igitt. Das Staatswohl ("Es gibt keine grüne, es gibt nur eine deutsche Außenpolitik!", J. Fischer) adelt auch Kleinbürger zum Stresemann.

Auf dieser restaurativen Welle surfen Schröder und Fischer wie die Weltmeister. Zu keiner Zeit von ihren schwachen Fraktionsvorsitzenden herausgefordert, können sie dem Publikum ihr Staatstheater bieten. Das Parlament geht bei Fuß. Es ist schon bemerkenswert, dass sich die großen Debatten im Hohen Hause nur noch an privaten Schicksalsfragen entzünden, während die genuin politischen Themen der Regierung überlassen werden. Abtreibung, Sterbehilfe, Organ spende: Glanzlichter des Parlaments. Hilflos abgenickt dagegen: Bundeswehreinsätze, Euro-Einführung, Lauschangriff.

Hermann Scheer hat diese Problematik messerscharf analysiert: Der Niedergang des Parlaments führt zu einer Krise der parlamentarischen Demokratie, im schlimmsten Fall zur Ablösung der Demokratie - durch was auch immer. Die Ursache sieht Scheer in Kompetenzverlust und Kompetenzverzicht der Abgeordneten. Doch die Volksvertreter sind nicht das einzige Problem. Die bürgerliche Demokratie, wie sie sich in den Jahrhunderten nach der Französischen Revolution entwickelte, basiert auf einer Dreiheit: der Unabhängigkeit der Parlamente, der Unabhängigkeit der Medien und der Unabhängigkeit der Universitäten. Diese zentralen Orte der öffentlichen Debatte sind zugleich die Wachtürme des demokratischen Verfassungsstaates.

Wenn Parlamente, Medien und Hochschulen ihren Verfassungsauftrag erfüllen, muss Politik nicht mehr erlitten, kann Politik endlich gestaltet werden. Wenn aber zwei dieser Türme morsch sind, kann der dritte den Verfassungsstaat nicht retten. Wenn die Vermachtung der Medien und die industrielle Indienstnahme der Hochschulen voranschreitet, bleibt das Parlament nicht unbestechlicher Hüter der Verfassung. Da alle drei Institutionen miteinander verknüpft sind, befällt der antidemokratische Pilz immer alle drei zugleich. Fällt der erste Turm, reißt er den zweiten mit. Herunter purzeln die "Sturmgeschütze der Demokratie". Wenn Hermann Scheer also verlangt, die Parlamentarier müssten sich auf die Hinterfüße stellen und wieder ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen, so müßten dies zur gleichen Zeit auch die Journalisten und Wissenschaftler tun. Denn alle drei kämpfen ja mit den gleichen Mitbestimmungsproblemen.

Nicht nur Parlamentarier, auch Journalisten und Wissenschaftler haben im eigenen Haus immer seltener etwas zu sagen. Oft sind sie degradiert zu bloßen Zuarbeitern und Rohstofflieferanten, die über die Verarbeitung des Gelieferten gar nicht mehr mitreden können. Darüber wird gemeckert und genölt (wie überall), aber leider nicht in den dafür vorgesehenen Konferenzen und Plenarsitzungen, sondern hinter vorgehaltener Hand oder auf dem Weg zum Klo. Wenn freilich nicht einmal die "Wächter der Demokratie" etwas zu sagen haben, wie sollen sie dann in der Bevölkerung ein Bewusstsein "für die Notwendigkeit des Mittuns" (Johannes Rau) wecken?

Es ist dies die bitterste Erfahrung, die uns die rot-grüne "Machtübernahme" beschert hat: dass über Mitbestimmung und Mitgestaltung kein Sterbenswörtchen mehr verloren wird. Nie und nirgends! Dass dieses zentrale Zauberwort eines rot-grünen Aufbruchs aus dem Wortschatz getilgt worden ist wie ein four-letter-word aus dem offiziellen Bundestagsprotokoll. Stattdessen werfen unsere "Machtmenschen" ihre manschettenfeinen Worthülsen Globalisierung und Modernisierung unters Volk, und ersetzen Politik durch die Anpassung an das Vorgefundene - symbolisiert in Fischers abwehrendem Standardsatz: "Ich kann die Welt nicht besser machen, als sie ist."

So richtig Hermann Scheers Aufforderung zur Verteidigung der parlamentarischen Demokratie also erscheint, es ist viel zu defensiv, sich auf die Erhaltung des demokratischen Verfassungsstaats zu konzentrieren. Angesichts der weltweiten Verhältnisse ein allzu bescheidenes "linkes Projekt". Es erinnert ein wenig an die Haltung der Weimarer SPD in den letzten Jahren der Republik: legalistisch, honorig, staatstreu und kraftlos. Die Linke - das muß sie sich eingestehen - ist derzeit nicht in der Lage, eine wichtige Rolle zu spielen. Schon deshalb sollte sie sich nicht zur Hüterin der Verfassung aufschwingen, sondern locker bleiben und die Antennen ausfahren.

Die Verkrampfung in den Verfassungsstaat engt sie genauso ein wie die Verkrampfung in den kapitalistischen Hauptwiderspruch (siehe Jutta Ditfurth). Viel wichtiger wäre es, die solare Weltwirtschaft zu diskutieren, als dem neuen Berliner Obrigkeitsstaat mit alternativem Staatstheater Paroli zu bieten. Damit würde man sich erneut auf die Rolle des Staates fixieren und die alten Jusokämpfe, ob der Staat nun als ideeller Gesamtkapitalist handle oder doch nur so wirke, auf die berühmte Nadelspitze treiben. Sicher: Der demokratische Verfassungsstaat ist unverzichtbar für die Gestaltung von Politik. Aber über dem institutionellen Ideal dürfen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht aus den Augen verloren werden. Es ist ja unser Verfassungsstaat (dieser Staat in seiner jetzigen Verfassung!), der laut UNCTAD-Bericht die westliche Globalisierungsstrategie so nachhaltig flankiert, dass die Armen der Welt noch etwas ärmer, und die Reichen noch sehr viel reicher werden - und zwar innerhalb wie außerhalb unserer Verfassungsgrenzen.

Sinnvoller als die von Hermann Scheer geforderte linke Staatsanwaltschaft, die die eigenen Kräfte überschätzt und den Handlungsspielraum verengt, scheint mir eine Verständigung darüber zu sein, was der gemeinsame Nenner einer vor- oder außerparlamentarischen Politik denn sein könnte, die den Volksvertretern wieder auf die Beine hilft (oder ihnen Beine macht). Nötig wären insbesondere präzisere Analysen und Situationsbeschreibungen zum Stand der Dinge. Und wenn diese Analysen es schafften, ohne vulgärmarxistische Versatzstücke auszukommen, umso besser. Nötig wäre darüberhinaus die internationale Ausrichtung der Debatte, um dem gegenwärtigen rotgrünen Eurozentrismus etwas frische Luft aus Asien, Afrika und Lateinamerika zuzufächeln. Und besonders schön wäre es, wenn die Teilnehmer dieses "Aufbruchs", bei aller Schwere der Probleme, dennoch locker bleiben könnten - sowohl im Verhalten gegenüber anderen, als auch innerhalb und außerhalb der verschiedenen Parteien und Parlamente.

Wenn sich dieses Minimalprogramm zum common sense einer "Neuen Linken" entwickeln würde (die Neue Mitte und die Neue Rechte gibt's ja schon), dann stünde der Renaissance der Mitbestimmungsfrage nichts mehr im Wege.

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

Wolfgang Michal

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