Als die Abgeordneten des Dritten Standes am 20. Juni 1789 in Versailles tagten, gelobten sie feierlich, „nicht wieder auseinanderzugehen, bis der Staat eine Verfassung hat“, und schworen, „nur der Gewalt der Bajonette“ zu weichen. Mit dem berühmten „Ballhausschwur“ erklärte sich das Parlament zum Souverän. Der König musste klein beigeben.
Ein solches Parlament gibt es in Straßburg nicht. Trotz heftiger Kritik am Nominierungsverfahren des Europäischen Rats wählte eine knappe Abgeordneten-Mehrheit die aufgezwungene Kandidatin. Die starkem Druck ausgesetzte Ablehnungsfront aus Grünen, Linken und Sozialdemokraten war zu brüchig. Ursula von der Leyen erhielt in etwa so viele Stimmen wie ihr christdemokratischer Vorvorgänger José Manuel Barroso im Jahr 2009.
König Macron hat damit nicht nur eine Schlacht gewonnen. Seine Europastrategie scheint aufzugehen. In den kommenden fünf Jahren wird sich die EU nicht allzu sehr mit Demokratisierungsdebatten aufhalten – sie wird ordentlich aufrüsten. Denn nach dem Willen der Staatschefs haben innere und äußere Sicherheit jetzt Priorität. Weder Klimaschutz noch Arbeitnehmerrechte werden im Mittelpunkt stehen, und eine „gerechte Besteuerung“ von Großkonzernen schon gar nicht. Die im Wahlkampf versprochene Demokratisierung wird der Rat an einen unverbindlichen „Reformkonvent“ überweisen, mit Guy Verhofstadt an der Spitze. Der darf dann vor der nächsten Europawahl neue unhaltbare Versprechen in die Bevölkerung pusten.
Ursula von der Leyen war keine Zufallskandidatin. Als langjährige Verteidigungsministerin galt sie den 28 Regierungschefs als richtige Person zur richtigen Zeit. Von ihrer Präsidentschaft wird erwartet, dass sie die 2017 beschlossene „Verteidigungsunion“ mit ihren sündteuren Rüstungsprojekten voranbringt und dass sie die vereinbarte 10.000 Mann starke Grenzschutz-Interventionstruppe so geräuschlos wie möglich „implementiert“. Für beide Aufgaben wäre das Europaparlament ein Klotz am Bein. Es würde sich sowohl in die Vergabe der Milliarden-Aufträge an die Rüstungskonzerne Dassault, Thales, MTU und Airbus einmischen als auch die geplanten „Vorabkontrollen“ an den EU-Außengrenzen und die „unbürokratische“ Rückführung Geflüchteter kritisch prüfen.
Schon bislang hat der Rat aus seiner Verachtung des Parlaments kein Hehl gemacht: Den im November 2017 fraktionsübergreifend mit Zweidrittelmehrheit angenommenen Gesetzentwurf zur gerechten Verteilung von Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten (Dublin-III-Reform) hat der Rat einfach ignoriert. Er wird dies auch mit allen übrigen Parlamentsinitiativen tun, die den Grenz- und Küstenschutz oder den Aufbau einer europäischen Armee betreffen. Die Generalstäbe und die eng mit ihnen verbundenen Berater aus der „Group of Personalities“ (Rüstungslobby) wollen sich nicht in die Karten schauen lassen. Da passt es gut, dass das Parlament in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik sowieso nicht mitentscheiden darf. Es darf nur untertänigst um Informationen bitten. Nun könnte man einwenden: Anders kommt Europa nicht vom Fleck! Lieber eine undemokratische Vertiefung der Union als ihr schleichender Zerfall. Lief es nicht immer so? Die zentrale Leistung der zehnjährigen Kommissionspräsidentschaft José Manuel Barrosos war im Mai 2014 die Schaffung der Bankenunion als Antwort auf die Finanzkrise. Seither hat die Europäische Zentralbank (EZB) die Aufsicht über die Großbanken. Und auch die Leitplanken für den Europäischen Währungsfonds (EWF) sind gesetzt. Er soll Hilfsgelder nur dann an kriselnde Staaten vergeben, wenn diese sich zu „Haushaltsdisziplin“ und „Strukturreformen“ verpflichten. Doch weder EZB noch EWF unterliegen demokratischer Kontrolle. Heute arbeitet Barroso für Goldman Sachs.
Auch die Notwendigkeit der Verteidigungsunion wird vom Rat bestens begründet. In Zeiten von Donald Trump müsse sich die EU emanzipieren und künftig ohne die USA militärisch handlungsfähig sein. Sie müsse die europäische „Rüstungskleinstaaterei“ mit ihren 178 verschiedenen Waffensystemen überwinden, Verschwendung eindämmen und Drohnen, Panzer und Kampfflugzeuge gemeinsam entwickeln. Nur: Warum sitzen dann weiterhin NATO-Verbindungsoffiziere in allen wichtigen Gremien? Warum organisiert Macron den Aufbau seiner europäischen Eingreiftruppe außerhalb der EU-Strukturen? Dienen die teuren Rüstungsprojekte am Ende doch nur der Erfüllung des Trump’schen Diktums, die Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen?
Mit der Wahl Ursula von der Leyens werden die Gewichte in der EU weiter verschoben, weg vom Parlament, hin zum Rat der Regierungschefs. Mit dieser Renationalisierung europäischer Politik wird es keinen demokratischen Fortschritt geben. Wer die Autokraten verabscheut, darf selbst nicht in bonapartistische Herrschaftspraktiken zurückfallen. Das Parlament hat sich mit der Wahl Ursula von der Leyens geschadet. Mehr noch: sich unterworfen. Es gibt in Straßburg leider keinen Mirabeau, der dem König die Stirn bietet. Der Alterspräsident im EU-Parlament heißt Silvio Berlusconi.
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