Die Union ist offenbar fein raus. Angela Merkel hat es wieder einmal geschafft, die eigenen Versäumnisse wegzulächeln. „Ich kann nicht erkennen“, sagte die CDU-Vorsitzende angesichts des Verlustes von 8,6 Prozentpunkten trocken, „was wir jetzt anders machen müssten.“ Mit dieser Bemerkung stellte sie klar, dass die „schonungslose Analyse“ des schlechtesten CDU-Wahlergebnisses seit 1949 nicht stattfinden würde.
Acht Wochen nach der Wahl gilt vielmehr der spöttische Satz von Jens Spahn, dass in diesem Land nur noch eine Partei den Mut besitzt, wirklich regieren zu wollen – die CDU. Die anderen würden zaudern, opponieren oder sich trotzig verweigern. Der Spott des CDU-Vizes verdeckt freilich die Tatsache, dass man sein Bonmot auch ganz anders lesen kann: Dass in diesem Land keine Partei mehr freiwillig dazu bereit ist, mit Merkel zu regieren. Und dieser Umstand ist für die Union weitaus gefährlicher, als es in der flapsigen Bemerkung zum Ausdruck kommt.
Spahn im Busch
Denn die, die nicht mehr mit Merkel regieren wollen, sitzen zuallererst in der Union. Seit dem Wahldesaster vom 24. September fordern sie den Wechsel an der Spitze, manche ungehobelt wie die Düsseldorfer Junge Union oder der „Freiheitlich-Konservative Aufbruch in der CDU“, manche eher hintenrum wie der Wirtschaftsrat der CDU, die meisten hasenfüßig und verklemmt wie jene Hoffnungsträger in der Partei, die sich zwar gern als „junge Wilde“ titulieren lassen, aber jeden Machtkampf auf offener Bühne scheuen. Das Schicksal Christian Lindners, der über Nacht vom genialen Strategen zum Quertreiber und Politclown hinuntergeschrieben wurde, hat ihnen gezeigt, dass ein echter Putsch gegen Merkel derzeit nicht ratsam ist. Die Angst vor dem eigenen Karriere-Aus lähmt ihre Tatkraft.
Schon die „Viererbande“ um Heiner Geißler und Lothar Späth, die 1989 Helmut Kohl wegputschen wollte, scheiterte an der eigenen Unentschlossenheit. Der Respekt vor Kohl war zu groß. Vera Lengsfeld, die rechte Flügelfrau der Ost-CDU, schimpft denn auch über die feigen „CDU-Rebellen“ Jens Spahn und Julia Klöckner, die sich nach dem Scheitern von Jamaika erst mal in die Büsche geschlagen hätten. Dort warten sie nun auf günstigere Gelegenheiten.
Und die könnten bald kommen. Die CDU, schreibt Alexander Marguier vom konservativen Zeitgeist-Magazin Cicero, steuere „auf die schwerste Krise seit der Spendenaffäre zu“, und die angeschlagene SPD werde diese Krise auslösen. Denn die Sozialdemokraten würden sich das von der Union „erpresste“ Bündnis „teuer bezahlen lassen“. Das sei „weiten Teilen der CDU“ bewusst und verstärke noch die innerparteiliche Frustration. „Angela Merkel ist zu einer Gefahr für die eigene Partei geworden.“
Sind das bloß markige Sprüche? Oder wagt hier ein „konservativer Revolutionär“ eine offene Kampfansage? Die Junge Union, die ein Viertel der CDU-Mitglieder vertritt und unter ihrem ehrgeizigen Vorsitzenden Paul Ziemiak oft Merkel-kritische Töne spuckt, hegt ganz ähnliche Ausverkaufsängste: „Für uns steht fest, dass wir nicht um jeden Preis eine GroKo eingehen dürfen“, sagt Ziemiak. „Wenn wir auf Teufel komm raus auf die SPD angewiesen sind, ist die Möglichkeit, einen guten Kompromiss zu finden, sehr, sehr schlecht für uns.“
Die FAZ denkt ebenso: Eine Große Koalition werde „teuer“ für die CDU. In Umlauf gebracht werden solche Alarmrufe meist von Merkel-Skeptikern wie der CDU-Mittelstandsvereinigung oder dem CDU-Wirtschaftsrat. Dessen Generalsekretär Wolfgang Steiger warnte schon mal vorsorglich, die Union dürfe eine SPD-Regierungsbeteiligung „nicht mit überteuerten Sozialgeschenken erkaufen“. Steiger fürchtet eine Ausweitung der Mütter- und die Einführung einer Mindestrente sowie die weitere „unkontrollierte Zuwanderung“ von Ausländern „in die Sozialsysteme“.
Im Präsidium des Wirtschaftsrats sitzt auch ein gewisser Friedrich Merz. Ihn hatte die aufstrebende Angela Merkel vor 15 Jahren als CDU-Fraktionsvorsitzenden ausgebootet. Der heute als Aufsichtsratschef der deutschen Filiale des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock tätige Lobbyist meldet sich in letzter Zeit wieder häufiger zu Wort, am liebsten mit unverhohlener Kritik an Merkel. Ministerpräsident Armin Laschet will Merz bald zum Brexit-Beauftragten Nordrhein-Westfalens machen.
Es braut sich etwas zusammen in der CDU. Und die SPD-Sondierer für die Große Koalition könnten sich schon bald in der absurden Situation wiederfinden, als letzte Schutzheilige der Kanzlerin aufzutreten: Je mehr die Sozialdemokraten verlangen, je höher sie ihren Preis treiben, desto stärker wird die Kanzlerin in der eigenen Partei unter Druck geraten. Umgekehrt gilt: Je billiger sich die SPD verkauft – und Martin Schulz damit innerparteilich unter Druck setzt –, desto besser läuft es für Merkel. Der Reform-Flügel der CDU und der Seeheimer Kreis der SPD sind politisch aufeinander angewiesen, sie werden sich gegenseitig stützen und die jeweils andere Seite nicht mit überzogenen Forderungen in die Bredouille bringen. Merkel ist ihre gemeinsame Kanzlerin. Je weniger ambitioniert die nächste GroKo den politischen Betrieb verwaltet, desto stabiler wird sie erscheinen.
Wie lange würde ein so zerbrechliches, auf politischen Stillstand angelegtes Gebilde aus zwei halben Parteien halten, wie stark würden sich die Ränder innerhalb und außerhalb der Koalition vergrößern? Wenn es etwa um hohe Mehrausgaben für Europa geht. Wenn Entwicklungen eintreten, die nicht vorhersehbar sind: ein plötzlicher Konjunktureinbruch, eine neue Eurokrise, Terror in den Städten, neue „Flüchtlingsströme“, Krieg im Nahen oder Fernen Osten. Die AfD setzt und Lindners FDP spekuliert auf eine Zuspitzung der Verhältnisse. Das werden der linke Flügel der SPD und der rechte Flügel der Union nicht lange aushalten – und jeweils aufbegehren.
Ob es dann noch gelingen kann, die jetzt schon in sich zerrissenen Parteien zu erneuern oder ob sie zerfallen wie in Italien, Frankreich, Spanien und den Niederlanden und von neuartigen Sammlungsbewegungen abgelöst werden, ist fraglich. Aber die Voraussetzungen für beide Entwicklungsmöglichkeiten werden jetzt geschaffen.
Kohls Los droht
Angela Merkel glaubt vielleicht, den Richtungsstreit in ihrer Partei noch moderieren oder aussitzen zu können. Aber das wird ihr nicht gelingen. Denn sie selbst ist zum Symbol dieses Konflikts geworden. Sie ist bereits so sehr Reizfigur, dass sie als Moderatorin nicht mehr taugt. Das Moderieren selbst ist durch sie in Verruf geraten, weil man es mit einer Politik des Hinhaltens und Einschläferns verbindet. Christian Lindner hat sich dieser Machttechnik trotzig widersetzt. Daraufhin formulierte die Zeit die Titelzeile „Er oder sie?“. Es ist kein Zufall, dass Kritiker die Probleme der CDU allein auf die Person Merkel projizieren und verächtlich oder staunend von der „Merkel-CDU“ und der „Machtarroganz des Systems Merkel“ sprechen.
Wie der von ihr verdrängte Helmut Kohl hat Angela Merkel den idealen Zeitpunkt für einen geordneten Rückzug verpasst. Sie wird also mühsam demontiert werden müssen. Aber noch traut sich niemand in der CDU ins Offene. Vera Lengsfeld beschreibt die prekäre Lage der Union höhnisch so: „Die spannende Frage ist, ob die Hoffnungsträger der CSU, Söder und Dobrindt, sich ebenso wegducken wie Spahn und Klöckner, oder ob sie sich an Christian Lindner ein Beispiel nehmen.“
Erste Demontageversuche haben schon begonnen. Nach der bewusst herbeigeführten, mit der Kanzlerin nicht abgesprochenen CSU-Entscheidung für das umstrittene Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat wird sich die SPD genau überlegen, ob sie sich zusätzlich zu den eigenen auch noch die Probleme der Union aufhalsen will.
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