Sie trauen sich, sie trauen sich nicht. Seit 42 Jahren beschäftigt die CSU die selbstquälerische Frage, ob sie sich bundesweit ausdehnen soll oder nicht. Zu einer klaren Entscheidung ist sie bislang nicht fähig.
Den ersten Versuch unternahm die CSU am 19. November 1976 in Wildbad Kreuth. Dort beschloss sie die Auflösung der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Nach drei Wahlniederlagen gegen die sozialliberale Koalition saß der Frust beim damaligen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß so tief, dass er der Union einen Sieg nicht mehr zutraute. Mochte die CSU auch Traumergebnisse von 60 Prozent zum gemeinsamen Wahlergebnis beisteuern – es reichte nicht, weil die CDU im Norden viel zu schwach war.
Also begann die CSU von einer „Vierten Partei“ zu träumen. Eine Ausdehnung der CSU auf das Bundesgebiet würde ihr die Chance eröffnen, die Macht in Bonn (!) für die Union zurückzuerobern. Mit der Strategie „Getrennt marschieren, vereint schlagen“ wollte man neue Wählerschichten gewinnen und SPD und FDP übertrumpfen. Der Kreuther Trennungsbeschluss sollte der Startschuss sein.
Doch die CSU hatte die Rechnung ohne die CDU gemacht. Helmut Kohl und sein Generalsekretär Kurt Biedenkopf konterten den Kreuther Trennungsbeschluss mit der Ankündigung, ab sofort auch in Bayern anzutreten. Das wirkte. Die Mandatsträger der CSU, von den Dorfbürgermeistern bis hinauf zu den Landtagsabgeordneten, fürchteten, eine christlich-demokratische Konkurrenzpartei würde sie um ihre Posten und Pfründe bringen.
In Kompanie-Stärke rückten die Abgeordneten, Landräte und Bürgermeister in der Münchner Parteizentrale an und beknieten die CSU-Landesleitung, sie möge sich die Sache mit der Trennung noch einmal überlegen. Drei Wochen hielt die CSU-Führung der Bettelprozession stand, dann knickte sie ein. Am 12. Dezember 1976 hob die CSU den Trennungsbeschluss wieder auf. Als Gegenleistung konnte Strauß immerhin durchsetzen, dass er bei der nächsten Bundestagswahl der gemeinsame Kanzlerkandidat der Union sein würde. Die Wahl ging verloren, und das magere Ergebnis für Strauß dürfte auch daran gelegen haben, dass sich die CDU für den bayerischen Kandidaten nicht allzu sehr engagierte. Das Klima zwischen den Schwesterparteien blieb frostig. Hätte es den Bonner Machtwechsel im Oktober 1982 nicht gegeben – die FDP-Fraktion wechselte die Seiten und wählte Helmut Kohl zum Bundeskanzler –, hätte Strauß die Option auf eine „Vierte Partei“ wohl nicht so schnell fallen lassen.
Eine erneute Chance für den bundesweiten Antritt der CSU bot sich erst wieder nach dem Fall der Mauer. In den letzten Tagen der DDR hatte sich neben vielen anderen Parteien, Bündnissen und Aufbrüchen auch die „Deutsche Soziale Union“ gegründet. Sie war, wie die Ost-CDU und der Demokratische Aufbruch (DA), Teil des von Helmut Kohl angeführten konservativen Wahlbündnisses „Allianz für Deutschland“. Die DSU, die von der CSU finanziell und organisatorisch unterstützt wurde, erreichte bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 beachtliche 6,3 Prozent und stellte mit Peter-Michael Diestel den stellvertretenden Ministerpräsidenten. Peter Gauweiler, der politische Ziehsohn des 1988 verstorbenen CSU-Vorsitzenden Strauß, sah in der DSU die einmalige Gelegenheit, die alte Idee von der bundesweiten Ausdehnung der CSU endlich zu verwirklichen, und drängte seinen Vorstand, die DSU stärker zu unterstützen. Als Berater für den Aufbau der „Ost-CSU“ fungierte der rechtslastige ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal. Ehrenvorsitzender der DSU wurde der CSU-Vorsitzende Theo Waigel, der seit April 1989 auch Bundesfinanzminister war.
Drei Prozent für die AfD
Bei der West-CDU wuchs die Nervosität. Sie umwarb Diestel und andere Führungsfiguren der DSU und bewegte sie schließlich zum Übertritt in die CDU. Die DSU sollte eine rechte Randerscheinung bleiben. Tatsächlich entwickelte sich die „Ost-CSU“ – wie später die AfD – kontinuierlich nach rechts. Mal bandelte sie mit den Republikanern an, mal mit der Pro-Partei des Hamburger Rechtspopulisten Ronald Schill. Die CSU war genötigt, sich von der DSU abzusetzen. 1992 kam es zum offenen Bruch. Die CSU zog sich zurück und die DSU wurde zur Splitterpartei. Sie nahm zwar noch an der sächsischen Landtagswahl 2014 teil, aber ihr Wählerpotenzial wurde nun von der AfD aufgesaugt. Die Idee einer bundesweiten CSU schien damit endgültig begraben zu sein. Auch die ausdrücklich gegen die „Merkel-CDU“ gegründete AfD beunruhigte die CSU zunächst nicht. Laut Umfragen war die Zustimmung zur AfD im Sommer 2015 bereits wieder auf drei Prozent gesunken.
Doch unmittelbar darauf begann die „Flüchtlingskrise“. Die Aufnahme von 1,4 Millionen Migranten in kürzester Zeit entzweite die Unionsschwestern und brachte die bundesweite Ausdehnung der CSU erneut auf die Tagesordnung. Konservative Medien, allen voran die Springerpublikationen, wurden nicht müde, das Thema mit eigens in Auftrag gegebenen Umfragen zu befeuern. Würden beide Unionsparteien bundesweit antreten, schrieb die Bild Anfang Februar 2016 unter der Titelzeile „So lohnt sich Seehofers Anti-Merkel-Kurs“, wären sie zusammen „deutlich stärker“ als in der jetzigen Formation. Die CDU würde 23 Prozent erreichen, die CSU 19 Prozent.
Als die AfD dann im März zweistellige Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt erzielte, intensivierten die konservativen Medien ihr Werben für eine bundesweite CSU. Der Focus berichtete am 1. April 2016, jeder zweite AfD-Wähler würde für die CSU stimmen, „wenn diese bundesweit anträte“. Die Mittelbayerische Zeitung ließ verlauten, 77 Prozent der CSU-Anhänger würden eine bundesweite Ausdehnung der CSU begrüßen. Und das rechtskonservative Politmagazin Cicero forderte die CSU „ultimativ“ auf, nicht länger nur zu palavern, sondern die große Koalition zu verlassen und bundesweit anzutreten. Auch FAZ, Sat1 und Welt heizten die Debatte weiter an. Selbst als Markus Söder und Horst Seehofer klarstellten, dass die CSU kein Interesse daran habe, eine „nationale Rechtspartei“ zu werden, hieß es, Seehofer befeuere „neue Spekulationen“ um eine bundesweite Ausdehnung. Der Drang, die CSU in ein politisches Abenteuer zu stürzen, ist bundesweit vorhanden.
Aber welche Vorteile hätte das? Der Aufstieg der AfD, so glauben manche, könnte durch eine bundesweite CSU gestoppt werden, insbesondere in Ost- und Süddeutschland. Um aber in den Augen wechselbereiter AfD-Wähler glaubwürdig zu sein, muss die CSU ihre Trennung von der CDU in einer hochdramatischen Auseinandersetzung in Szene setzen. Wie die vergangenen Wochen gezeigt haben, ist die CSU hier auf gutem Weg.
Ein anderer Trennungsgrund wird eher selten diskutiert: Eine bundesweite CSU hätte das Potenzial, die SPD dauerhaft aus der Regierung zu verdrängen. Nach drei großen Koalitionen, die nach Ansicht konservativer Kreise zu teuren Kompromissen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwangen, will man das ungeliebte Dauer-Patt zwischen Kapital und Arbeit endlich zugunsten der Kapitalseite auflösen. Zwei getrennt marschierende Unions-Parteien, flankiert von einer neoliberalen FDP, könnten künftig bürgerliche Mehrheiten sichern. Außerdem müsse man Vorsorge treffen für die Abwehr einer linkspopulistischen Sammlungsbewegung, deren Potenzial auf 20 bis 25 Prozent geschätzt wird.
Es gibt freilich auch Nachteile: Weder CDU noch CSU hätten künftig bei Wahlen Direktmandate sicher. Würde sich die letzte große Volkspartei zerlegen, wäre die deutsche Parteienlandschaft vollständig in Mittel- und Kleinparteien zersplittert. Das Risiko würde steigen, dass sich konkurrierende Unionsparteien nicht nur die Wähler abjagen, sondern insgesamt verlieren. SPD und Linke sind heute gemeinsam schwächer als die SPD vor 20 Jahren. Der CSU-Ehrenvorsitzende Theo Waigel warnt deshalb vor Milchmädchenrechnungen: „Die Trennungsverluste wären größer als der Wettbewerbsgewinn.“
Bauernschlaue Abgreif-Partei
Hinzu kommt, dass die CSU keine „Kampforganisation“ ist, sondern eine bauernschlaue Abgreif-Partei. Sie nutzt ihre Sonderrolle, um Posten und Gelder für sich und Bayern zu erlangen, und das mit dem denkbar geringsten Kraftaufwand. Anfang 2016 sagte der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer auf die Frage, ob sich seine Partei nicht endlich bundesweit aufstellen wolle, er fände es besser, weiter „in die CDU hineinzuwirken. Das bleibt unsere Strategie“. Die Erpressung der CDU ist für die CSU die einfachere und kostengünstigere Methode. Sie muss dann keine eigenen Ideen verwirklichen – es genügt, der CDU mit Forderungen gehörig auf den Wecker zu fallen. Seit vielen Jahrzehnten genießt die CSU aufgrund dieses Verhaltens ein überproportionales Gewicht in Union und Öffentlichkeit. In Partei- und Verhandlungsgremien gesteht man der CSU Delegationsstärken zu, die ihren Wähleranteil von 6,2 Prozent weit übertreffen. In Bundesregierungen, Talkshows, Nachrichtensendungen und Elefantenrunden entspricht ihre Präsenz dem Status einer größeren Bundespartei. Mit dem Standbein Bayern und dem Spielbein Berlin verfügt die CSU über größtmögliche Flexibilität. Im Freistaat kann ihr niemand hineinreden und im Bund kann sie alle nerven. Bequemer kann es eine Regionalpartei nicht haben. Warum sollte sie das ändern?
Also schwankt die CSU stets zwischen Übermut und Verzagtheit. Einerseits weiß sie, dass ihre bayerische Sonderrolle in Europa zunehmend bedeutungslos wird. Sie kann den Prozess zwar nach Kräften behindern, aber letztlich nicht umkehren. Wie zum Beweis haben die deutschen Industrie- und Arbeitgeberverbände vor wenigen Tagen in einer gemeinsamen Erklärung darauf hingewiesen, dass sie von einer Behinderung des europäischen Güteraustauschs durch nationale Kontrollen an den EU-Binnengrenzen wenig halten. Damit war Seehofers Position im Asylstreit unhaltbar geworden. Die Sonderinteressen einer Regionalpartei interessieren Europas Konzerne herzlich wenig.
Wagt die CSU den Sprung auf die Bundesebene andererseits nicht, könnte sie als skurrile Provinzpartei enden wie ihre einstige Konkurrentin, die Bayernpartei (BP). Franz Josef Strauß hatte seine Anhänger 1976 in Wildbad Kreuth vor die Wahl gestellt: „Wollt ihr ein bequemes Leben oder das Land regieren und ran an die Kanonen?“ Sympathischerweise lehnte die Mehrheit „die Kanonen“ damals ab. Doch die italienische Lega Nord hat der CSU inzwischen gezeigt, wie man von einer Regionalpartei zur bestimmenden Kraft im ganzen Land aufsteigt. Ähnlich erfolgreich verlief die Geschichte der österreichischen FPÖ.
Italien und Österreich stehen der CSU näher als Berlin. Überhaupt schaut die CSU mehr auf das Geschehen in den katholischen Ländern, Polen und Ungarn inklusive. Sie weiß, dass es riskant und mühsam ist, in die protestantischen Gefilde des Nordens vorzustoßen. Aber der neuen CSU-Generation um Söder, Alexander Dobrindt, Andreas Scheuer, Markus Blume und Manfred Weber steht auch klar vor Augen, dass ihre Partei womöglich gar nicht mehr anders kann als bundesweit anzutreten. Denn wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich diese Generation – trotz ihrer demonstrativen Heimatbeschwörung – längst entbajuwarisiert hat. Hier handeln global einsetzbare Karrieristen. Spätestens am Tag nach der bayerischen Landtagswahl wird die Diskussion über eine bundesweite Ausdehnung der CSU neu entflammen. Sie traut sich, sie traut sich nicht …
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